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»Aber nicht hier«, sprach sie den Rest ihres Gedankens laut aus. Die Maus blickte sie wieder an, als hätte sie ganz genau verstanden, was sie ihr sagen wollte, und allmählich wurde Leonie doch ein bisschen mulmig zumute. Es musste eine dressierte Maus sein, das war die einzige Erklärung.

»Wenn du die Milch nicht willst, schütte ich sie lieber weg«, sagte sie. »Bevor mein Vater kommt und sich fragt, was ich hier tue.«

Sie streckte die Hand nach der Schale aus. In diesem Moment fiel hinter ihr eine Tür ins Schloss und schnelle Schritte näherten sich. Statt die Schale auszuschütten, griff sie hastig nach der Maus und steckte sie kurzerhand in die Tasche. Das Tier piepste erschrocken, und Leonie fuhr auf dem Absatz herum und blickte ins Gesicht ihres Vaters, der in der Küchentür erschienen war und überrascht stehen blieb.

»Was machst du denn hier?«, fragte er.

»Ich wohne hier«, antwortete Leonie. Das Gesicht ihres Vaters verdüsterte sich und Leonie verbesserte sich hastig. »Ich konnte nicht schlafen und ich... ich hatte Durst.«

Ihr Vater sah sie auf eine Art an, als fiele es ihm schwer, ihre Erklärung zu glauben - warum eigentlich? -, dann kam er stirnrunzelnd näher und sah sehr nachdenklich den Liter Milch an, der hinter Leonie auf der Anrichte stand. »Seit wann trinkst du Milch?«, fragte er. Dann entdeckte er die Schale. »Und was soll das?«

»Ich ähm... bin auf den Geschmack gekommen.« Hastig drehte sie sich um, griff nach der Schale und versuchte die Milch zu schlürfen. Es blieb allerdings bei dem Versuch. Das meiste ging vorbei und lief ihr am Kinn hinab, um auf ihre Bluse zu tropfen. Leonie leerte die Schale trotzdem tapfer bis auf den letzten Tropfen, stellte sie ab und fuhr sich genießerisch mit dem Handrücken über den Mund.

»Köstlich. Daran könnte ich mich gewöhnen.« Insgeheim musste sie all ihre Willenskraft aufbringen, um nicht angeekelt das Gesicht zu verziehen. Sie hasste Milch.

Ihr Vater sah sie nun an, als zweifele er an ihrem Verstand, und die Maus in ihrer Tasche begann unruhig zu zappeln. Leonie drehte sich hastig weg, damit er es nicht sah. »Halt bloß still«, flüsterte sie.

Die linke Augenbraue ihres Vaters rutschte ein Stück nach oben. »Was hast du gesagt?«

»Es... äh... es ist sehr still«, stammelte Leonie.

Ihr Vater nickte. »Das ist es morgens um fünf meistens«, sagte er. »Was soll das?«

»Nichts«, versicherte Leonie. »Ich hatte wirklich Durst. Und ich konnte nicht schlafen.« Die Maus in ihrer Tasche zappelte stärker. Ganz offensichtlich gefiel es ihr nicht besonders, in einer Hosentasche eingesperrt zu sein.

Ihr Vater betrachtete sie noch einen Moment lang mit unverhohlenem Misstrauen, aber dann wurde sein Blick weich. »Das kann ich verstehen. Deiner Mutter und mir ergeht es nicht anders.« Er nahm den Liter Milch und stellte ihn in den Kühlschrank zurück, und Leonie drehte sich unauffällig zur Seite, damit er die zappelnde Beule in ihrer Hosentasche nicht bemerkte. »Es ist auch nicht leicht, sich nach einem Tag wie gestern einfach schlafen zu legen, als wäre nichts passiert.«

»Ihr seid im Geschäft?«, fragte Leonie. »Ich habe das Licht gesehen.«

Ihr Vater sah sie nachdenklich an, dann drehte er sich um und blickte noch nachdenklicher durch die Terrassentür in den Garten hinaus. Fragte er sich, wie man das Licht der Schaufensterbeleuchtung von hier aus eigentlich sehen konnte? Man konnte es nicht.

»Ich war draußen im Garten«, erklärte Leonie. »Wie gesagt: Ich konnte nicht schlafen.«

»Du solltest es aber trotzdem versuchen.« Ihr Vater hob die Schultern. »Andererseits ist es im Grunde egal. Ich habe in der Schule angerufen. Sie erlassen dir den letzten Schultag. Du kannst also ausschlafen.« Er sah noch einen Moment in den dunkel daliegenden Garten hinaus, und als er sich wieder Leonie zuwandte, war auch die letzte Spur von Misstrauen und Ärger aus seinem Gesicht verschwunden. Stattdessen sah er sie mit einem warmen, sehr mitfühlenden Lächeln an. »Versuch wenigstens, ein bisschen zur Ruhe zu kommen.«

»Ich weiß nicht, ob ich das überhaupt noch einmal kann«, sagte Leonie.

»Manche Dinge brauchen einfach Zeit«, antwortete Vater leise. »Versuch nicht den Schmerz zu unterdrücken. Das macht es nur schlimmer. Und es dauert länger, bis du ihn überwunden hast.«

»Ich kann immer noch nicht glauben, dass sie nicht wiederkommen wird«, murmelte Leonie. Ihr Vater lächelte milde, dann drehte er den Kopf und sah lange und schweigend durch die offen stehende Terrassentür nach draußen. Seltsam, dachte Leonie, er schien genau die Stelle anzusehen, an der sie vorhin Großmutters Gestalt gesehen hatte.

»Geh jetzt schlafen«, sagte er schließlich. »Oder versuch es wenigstens.«

Die Tür

Wieder oben in ihrem Zimmer schloss Leonie sorgfältig die Tür hinter sich ab und machte das Licht an, bevor sie die Maus aus der Hosentasche nahm und behutsam auf den Schreibtisch setzte. Das Tierchen sah ein wenig zerknittert aus und es blickte Leonie eindeutig vorwurfsvoll an, nachdem es sich mit seinen winzigen Pfoten die Schnurrhaare gerade gezogen und die Falten aus den Ohren gestrichen hatte, aber es machte nicht einmal den Versuch, wegzulaufen.

»Allmählich wirst du lästig, Knirps«, sagte Leonie kopfschüttelnd. »Also gut, bis morgen früh kannst du meinetwegen hier bleiben, aber danach bringe ich dich zurück in die Bibliothek.«

Die Maus nahm keine Notiz von ihr und fuhr fort, ihr Fell zu putzen.

»Die Frage ist nur, was ich so lange mit dir mache«, fügte Leonie hinzu. »Frei herumlaufen lassen kann ich dich auf keinen Fall und ich habe zufällig auch keinen Mäusekäfig hier.«

Bei dem Wort Käfig hielt die Maus für einen Moment inne und sah erschrocken zu ihr hoch.

»Also gut, ich sehe es ein«, seufzte Leonie. »Ich habe Halluzinationen. Wahrscheinlich gibt es auch dich nicht wirklich. Dann suche ich eben nach einer Unterkunft für ein Phantom.«

Was gar nicht so leicht getan wie gesagt war. Leonie musste eine ganze Weile suchen, bis sie einen alten Schuhkarton fand, in dem sie allen möglichen Krimskrams aufbewahrte. Sie schüttete ihn aus, trug ihn zum Schreibtisch und suchte nach etwas, womit sie Löcher in den Deckel bohren konnte. Schließlich wollte sie den ebenso unerwünschten wie hartnäckigen Besucher einsperren, nicht ersticken. Da ihr Schreibtisch wie immer penibel aufgeräumt war, fand sie auf Anhieb nichts, weshalb sie in die Tasche griff und die Piercing-Nadel hervorholte. Sie entfernte die verchromte Kugel von einem Ende, benutzte die Nadel, um ein gutes Dutzend Löcher in den Deckel des Schuhkartons zu stechen, und ärgerte sich wieder einmal darüber, dass sie ihr gesamtes Taschengeld für diese Woche wahrscheinlich ausgeben musste, um...

Ja, um was eigentlich?

Sie wusste es nicht. Der Gedanke war ihr gekommen, während sie das zweckentfremdete Piercing betrachtete, und sie spürte auch genau, dass es irgendetwas mit der verchromten Metallnadel zu tun hatte, aber sie wusste nicht was. Ebenso wenig, wie sie sich erklären konnte, wie das Piercing überhaupt auf den Waschbeckenrand gekommen war. Ihre Gedanken begannen wirklich eigenartige Wege zu gehen.

Leonie seufzte, steckte das Piercing wieder ein und wollte nach der Maus greifen, aber diesmal wich sie ihr mit einer raschen Bewegung aus.

»Ist schon klar«, sagte Leonie. »Du willst nicht in den Karton. Aber du wirst es schon müssen - oder du fliegst raus.«

Sie griff abermals mit der rechten Hand nach der Maus, hatte aber damit gerechnet, dass sie wieder versuchen würde, ihr mit einer flinken Bewegung auszuweichen, und langte blitzschnell auch mit der anderen Hand zu. Sie bekam die Maus tatsächlich zu fassen; allerdings nur für einen Moment, dann zog sie die Hand mit einem spitzen Schrei zurück, als sich die Zähne des winzigen Nagers schmerzhaft in ihre Fingerkuppe gruben.