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Meine Gnädigste!, dachte Leonie. Wo war sie hier bloß gelandet?

»Ich würde mich ja liebend gerne mit Ihnen über alte Zeiten austauschen, Albert«, sagte Großmutter lächelnd. »Aber zumindest im Moment passt es schlecht. Wir haben nämlich einen Termin bei Herrn Professor Wohlgemut und ich fürchte, wir sind schon jetzt zu spät dran.«

»Professor Wohlgemut?« Albert sah regelrecht erschrocken aus. Seine Stimme klang immer mehr wie das Kratzen einer alten Feder auf uraltem Papier. Er wirkte hilflos. »Aber ich... ich weiß gar nicht...?«

»Ja?«, fragte Großmutter.

Kratz, kratz, kratz.

»Also der Professor...« Albert druckste kurz herum, dann gab er sich sichtlich einen Ruck. »Ich verstehe.« Er sah Leonie und ihre Großmutter noch einen Moment lang hilflos an und verschwand dann mit schnellen Schritten hinter seinem Tresen und drückte einen Knopf. Ein Summen erklang und eine der Milchglastüren hinter ihm sprang einen Spaltbreit auf.

»Wir finden sicher noch Gelegenheit, in aller Ruhe über alte Zeiten zu plaudern.« Er wies mit einer einladenden Handbewegung auf die offen stehende Tür. »Sie kennen ja den Weg. Ich melde Sie schon mal beim Herrn Professor an.«

Großmutter bedankte sich mit einem Kopfnicken (und einem Lächeln, das sie für einen Moment zwanzig Jahre jünger aussehen ließ) und ging auf die offene Tür zu, und Leonie beeilte sich ihr zu folgen, bevor Albert vielleicht auf die Idee kam, irgendwelche selbst erlebten Geschichten aus dem Dreißigjährigen Krieg zu erzählen.

»Professor Wohlgemut wird dir gefallen«, bemerkte Großmutter, nachdem sie die Tür durchschritten hatten und einen langen, nur matt erhellten Gang mit weiß getünchten Wänden hinuntergingen, von dem zahlreiche Türen abzweigten. Auch hier sah es nicht aus wie in einer Bibliothek, fand Leonie, allerdings auch nicht mehr wie in einem Fünfziger-Jahre-Hotel, eher schon wie in einem hundertfünfzig Jahre alten Krankenhaus. »Er ist ein wirklich guter Freund von mir.«

Großmutter steuerte eine Gittertür ganz am Ende des Flures an, hinter der eine altmodische Liftkabine mit verspiegelten Wänden lag. »Er ist ein sehr netter Mann.« Sie blinzelte Leonie zu. »Und kaum älter als ich. Nicht einmal ganz zehn Jahre, glaube ich.«

»Aha«, sagte Leonie. Bedeutete das, dass sie sich jetzt auch noch selbst erlebte Geschichten von der Schlacht im Teutoburger Wald anhören musste?

»Das Ganze hier gefällt dir nicht, habe ich Recht?«, fragte Großmutter, als sie die Liftkabine betreten hatten und darauf warteten, dass sich das altmodische Gefährt in Bewegung setzte. Leonie wollte widersprechen, aber Großmutter hob rasch die Hand und schnitt ihr das Wort ab. »Oh, mach mir nichts vor. Ich weiß sehr wohl, dass du nur mitgekommen bist, um mir einen Gefallen zu tun.« Sie lächelte. »Das ist schon in Ordnung, wie ihr jungen Leute heute sagt. Ich erwarte nicht, dass du dich auf irgendetwas einlässt, was du nicht wirklich willst. Tu mir nur einen Gefallen und sieh dir an, was wir dir zeigen. Ist das in Ordnung?«

Leonie sagte gar nichts, sondern starrte ihre Großmutter nur verdattert - und mit einem heftigen schlechten Gewissen - an, aber Großmutter schien ihr Schweigen als Zustimmung zu werten, denn nach ein paar Sekunden nickte sie und drückte den Knopf für die dritte und zugleich oberste Etage und der an drei Seiten verspiegelte Eisenkäfig setzte sich schnaubend und wackelnd in Bewegung. Durch das Gitter, das die Tür bildete, konnte Leonie die anderen Etagen sehen, an denen sie vorüberglitten. Sie unterschieden sich nicht vom Erdgeschoss: lange, weiß gestrichene Flure mit zahlreichen Türen, sonst nichts. Und sie sah kein einziges Buch.

Die Kabine hielt an und Großmutter trat als Erste hinaus und wandte sich nach links. »Da hinten ist das Büro des Professors. Er wird uns herumführen und dir alles zeigen.«

»Hast du früher hier gearbeitet?«, erkundigte sich Leonie.

»Weil ich mich hier auskenne und wegen Albert und dem Professor?« Großmutter schüttelte lächelnd den Kopf. »O nein, ich war immer nur eine kleine Buchhändlerin mit einem noch kleineren Laden, in den sich kaum noch Kunden verirren. Aber wenn man sein Leben mit Büchern verbringt und noch dazu das große Glück hat, in dieser Stadt zu wohnen, dann kann man gar nicht anders, als die Zentralbibliothek kennen zu lernen.«

Sie hatten eine gewaltige zweiflügelige Tür erreicht, die mindestens drei Meter hoch war und aussah, als wöge sie eine Tonne. Großmutter machte auch keine Anstalten, sie zu öffnen, sondern drückte einen Klingelknopf, der an der Wand daneben angebracht war. »Ich finde es einen wunderschönen Gedanken, dass etwas, das ein Mensch vor über hundert Jahren niedergeschrieben hat, noch immer da ist. Der Mensch selbst ist schon lange verschwunden und vielleicht sogar schon vergessen, aber seine Gedanken sind immer noch da. Bücher sind Boten aus der Vergangenheit, weißt du? Botschaften aus der Vergangenheit für die Menschen der Zukunft. Wie kleine Zeitmaschinen.« Sie sah Leonie Beifall heischend an. »Das müsste dir doch gefallen. Das sind doch die Geschichten, die ihr jungen Leute heutzutage lest, oder? Wie nennt ihr sie doch gleich? Zukunftsromane?«

»Science-Fiction«, antwortete Leonie. »Aber Science-Fiction ist out. Heute ist Fantasy angesagt.«

»Fantasie, so.« Großmutter sprach es irgendwie so aus, dass man die deutsche Schreibweise hörte. »Früher nannte man es Märchen, glaube ich. Aber das Wort gefällt mir auch.«

Die Tür wurde geöffnet und eine junge Frau, der man die Sekretärin so deutlich ansah, als hätte sie sich ihre Berufsbezeichnung auf die Stirn tätowieren lassen, blickte Großmutter fragend an. Leonie lächelte ganz automatisch, aber sie war auch ein ganz kleines bisschen verwirrt: Abgesehen von dem Altersunterschied (der gute sechzig Jahre betragen musste) hätte die junge Frau eine Schwester ihrer Großmutter sein können.

Kratz, kratz, kratz. Etwas... veränderte sich. Lautlos, aber nachhaltig.

»Guten Tag«, begann Großmutter. »Der Herr Professor erwartet uns.«

»Professor Wohl...« Das Gesicht der Sekretärin hellte sich auf. »Sie müssen Frau Kammer sein. Ja, der Herr Professor hat mich informiert.« Sie trat einen halben Schritt zurück und machte eine einladende Handbewegung. »Wenn Sie einen Moment hereinkommen, erkläre ich Ihnen den Weg.«

Großmutter trat auf die Tür zu, aber als Leonie ihr folgen wollte, machte die dunkelhaarige junge Frau eine knappe, aber sehr entschiedene Bewegung. In ihren Augen blitzte etwas auf, das an blanken Hass grenzte.

Aber auch eine Spur von Furcht...

»Es tut mir Leid«, sagte sie. »Aber Unbefugten ist das Betreten der Verwaltungsräume streng verboten.«

»Was soll denn der Unsinn?«, murrte Leonie. »Haben Sie Angst, dass ich...«

Sie verstummte, als sie einen mahnenden Blick aus Großmutters Augen auffing. Wäre sie allein gewesen, hätte sie dieser eingebildeten Tussi gehörig die Meinung gesagt, aber sie wollte Großmutter nicht in Verlegenheit bringen. So beließ sie es bei einem Achselzucken und einem trotzigen Blick und trat wieder zurück. Ihre Großmutter stand jetzt im Türrahmen und Leonie sah sich gelangweilt um. Sie hoffte, dass es nicht zu lange dauerte. Andererseits - dieser Tag war sowieso im Eimer. Was machten da schon ein paar Minuten?

Alles.

Die Erkenntnis erschien so deutlich in ihren Gedanken, als hätte sie jemand mit einer glühenden Stahlfeder auf die Innenseite ihrer Stirn tätowiert. Ganz egal, was geschah - ihre Großmutter durfte nicht durch diese Tür treten. Gerade als die Sekretärin die Tür hinter sich schließen wollte, streckte Leonie die Hand aus und riss sie mit aller Kraft zurück.

»Nein!«, schrie sie. »Geh nicht dort hinein!«

Ihre Großmutter, die schon fast eingetreten war, hielt mitten in der Bewegung inne und drehte sich verwirrt zu ihr um. »Aber Kind!«, rief sie. »Was ist denn nur los mit dir?«