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Die Sekretärin sah nicht verwirrt aus. Ihre Augen sprühten vor Hass. Aber sonderbarerweise sagte sie nichts, sondern griff nur ihrerseits nach der Türklinke und versuchte die Tür ins Schloss zu ziehen. Ihre Kraft war erschreckend. Etwas an ihr... veränderte sich. Für einen winzigen, aber entsetzlichen Moment schien zuerst ihr Gesicht, dann ihre ganze Gestalt auf unheimliche Weise an Substanz zu verlieren, als begänne etwas anderes, durch und durch Fremdes und Feindseliges unter der vertrauten menschlichen Erscheinung Gestalt anzunehmen, und ein Gefühl fast übermächtiger Furcht schloss sich um Leonies Herz und presste es zusammen. Sie bekam keine Luft mehr. Sie kratz, kratz, kratz wollte nichts mehr, als auf der Stelle herumfahren und von hier verschwinden, so schnell und so weit weg, wie sie nur konnte, aber das kratz, kratz, kratz durfte sie nicht. Etwas unvorstellbar Schreckliches würde geschehen, wenn sie zuließ, dass ihre Großmutter auch nur einen Fuß in den Raum hinter dieser Tür setzte. Statt loszulassen stemmte sie sich nur noch mit größerer Kraft gegen den Griff des Archivars der Sekretärin und versuchte gleichzeitig mit der anderen Hand ihre Großmutter wieder zu sich auf den Flur hinauszuziehen.

»Aber Leonie!«, keuchte Großmutter. »Was ist denn nur plötzlich in dich gefah...«

Weder die vermeintliche Sekretärin noch Leonie wollte loslassen, und obwohl der Archivar Wohlgemuts Sekretärin mit schier übermenschlicher Gewalt an der Türklinke zerrte, kämpfte Leonie auf der anderen Seite mit der absoluten Kraft der Todesangst, mit der sie die bloße Vorstellung erfüllte, ihre Großmutter könnte in jenen schrecklichen Raum treten.

Schließlich war es die altersschwache Türklinke, die kapitulierte.

Irgendetwas im Inneren der Tür zerbrach. Die Sekretärin riss ungläubig die Augen auf und taumelte zurück, als sie plötzlich nur noch die abgebrochene Hälfte der Türklinke in der Hand hielt, kämpfte für einen Moment mit wild rudernden Armen um ihr Gleichgewicht und stürzte dann zu Boden, und zugleich stolperten Leonie und ihre Großmutter in die entgegengesetzte Richtung und wieder endgültig auf den Flur hinaus. Die Tür schwang knarrend auf und gab den Blick auf den dahinter liegenden Raum frei.

Nur dass es nicht das Büro des Bibliotheksleiters war.

Es war überhaupt kein Büro. Es war nicht einmal ein Zimmer.

Leonie starrte aus ungläubig aufgerissenen Augen auf den gewaltigen, aus uraltem, moderndem Ziegelstein gemauerten Saal, der sich da auftat, wo sie ein altmodisch eingerichtetes Büro erwartet hatte. Der Raum war gigantisch, mit einer turmhohen Decke, die von riesigen Spitzbögen getragen wurde, und voll von unheimlichen... Dingen, die an grobschlächtige Maschinen erinnerten, deren Zweck Leonie nicht einmal zu erraten vermochte. Ein flackerndes blassgrünes Licht, das aus dem Nirgendwo zu kommen schien, erhellte die gespenstische Szenerie, und in der Luft lag ein durchdringender, heißer Geruch nach Marzipan.

Die Sekretärin stand auf, aber sie war nun keine Sekretärin mehr.

Vor Leonie stand eine unheimliche, fast nur als Schatten erkennbare Gestalt, die einen schwarzen Kapuzenmantel trug, ein Schemen, riesig und düster, mit den Umrissen eines Menschen, aber gleichzeitig anders als ein Mensch, vollkommen anders und unmenschlich.

»Du!«, keuchte Großmutter. »Aber das kann doch nicht sein! Nicht nach all den...« Ihre Stimme versagte. Alle Farbe wich aus ihrem Gesicht und mit einem Mal wirkte sie unendlich alt und müde.

Komm zu mir, befahl der Archivar. Er streckte die Hand aus, und Leonie konnte spüren, wie sein Wille wie eine unwiderstehliche Woge über ihrer Großmutter zusammenschlug und kratz, kratz, kratz, das Geräusch einer altertümlichen Schreibfeder auf uraltem Pergament ihren eigenen Willen einfach brach und kratz, kratz, kratz. Der Archivar kommt näher. Die Kräfte ihrer Großmutter beginnen jetzt immer rascher zu erlahmen. Leonie weiß, dass sie ihn nur noch für ein paar Sekunden aufhalten kann, und ihre Feder fährt immer hastiger über das Papier, löscht Buchstaben aus und fügt andere hinzu. Das Ungeheuer hat sie jetzt fast erreicht. Sie kann spüren, wie es die Hand nach ihr ausstreckt, aber sie wagt es nicht, den Blick von den brüchigen Seiten des uralten Buches zu nehmen, sondern die Sekretärin fuhr sich mit einer verwirrten Geste durch das kurz geschnittene blonde Haar und maß Leonie mit einem Blick, in dem sich Verwirrung und mühsam zurückgehaltener Ärger ein stummes Duell lieferten.

»Also, ich weiß wirklich nicht, ob...«, begann sie.

»Bitte entschuldigen Sie das Benehmen meiner Enkelin«, sagte Großmutter verlegen. »Die jungen Leute heute... Sie wissen ja.«

Dem Gesichtsausdruck der jungen Frau nach zu urteilen, wusste sie ganz eindeutig nicht, was Großmutter meinte, aber sie beließ es bei einem Achselzucken und wechselte das Thema.

»Also gut«, sagte sie. »Ich habe ohnehin noch viel zu tun und Sie kennen sich ja hier aus. Der Professor ist im großen Lesesaal. Finden Sie den Weg?«

»Selbstverständlich«, antwortete Großmutter hastig. Sie warf Leonie einen halb verwirrten, halb vorwurfsvollen Blick zu. »Gehen Sie ruhig an Ihre Arbeit. Ich finde mich schon zurecht.«

Noch einmal, ein allerletztes Mal, sah die Sekretärin Großmutter unschlüssig (und fast ein bisschen wütend) an, aber dann zuckte sie wortlos mit den Schultern und drehte sich auf dem Absatz um. Die Tür flog mit einem dumpfen Knall hinter ihr ins Schloss. Der Archivar hat sie erreicht, aber er hat so wenig Macht über sie, wie sein Körper noch Substanz besitzt. Als seine grässlichen Hände Leonie berühren, sind sie nicht mehr als Schatten. Und einen Augenblick später gänzlich verschwunden.

Mit einer ärgerlichen Bewegung fuhr Großmutter zu Leonie herum. »Was sollte denn das?«, fragte sie. »Musstest du unbedingt...« Sie brach ab, runzelte die Stirn und sah erst Leonie, dann die geschlossene Tür hinter sich und dann wieder ihre Enkelin nachdenklich an. Ein Ausdruck zwischen Bestürzung und maßlosem Entsetzen erschien auf ihrem Gesicht.

»Was wolltest du sagen?«, fragte Leonie.

»Nichts«, antwortete Großmutter. Sie strich sich eine Strähne ihres dünnen, grauen Haares zurück, die ihr in die Stirn gerutscht war, und fuhr in der gleichen Bewegung glättend über ihre Kleidung. Sie wirkte ein bisschen zerrupft, fand Leonie.

Großmutter wandte sich um und bedeutete Leonie mit einer entsprechenden Handbewegung, ihr zu folgen. Sie ging den Flur in umgekehrter Richtung zurück, am Lift vorbei und durch mehrere Türen, und mit jeder Tür, die sie durchschritten, konnte sie ein bisschen besser verstehen, was Großmutter gerade gemeint hatte, als sie von einer Zeitmaschine sprach. Es war tatsächlich wie eine kleine Zeitreise, denn sie bewegten sich eindeutig mit jedem Schritt ein winziges Stückchen weiter in die Vergangenheit. Die Türen wurden älter und hatten jetzt schwere, kunstvoll geschmiedete Griffe und Beschläge aus Messing, die ausgetretenen Bodendielen, über die sie gingen, knirschten unter ihren Füßen, und unter den Decken hingen keine Neonröhren mehr, sondern schimmernde Kristalllüster; und dann öffnete Großmutter eine letzte Tür und der Schritt hindurch schien endgültig der in ein lange zurückliegendes Jahrhundert zu sein.

Leonie war noch nie hier gewesen, aber ihr war sofort klar, dass das der große Saal sein musste, von dem Großmutter erzählt hatte - wobei die Betonung eindeutig auf dem Wort groß lag.

Sie war niemals in einem größeren Raum gewesen und sie hatte niemals mehr Bücher an einem Ort versammelt gesehen. Leonie schätzte, dass der Saal mindestens dreißig, wenn nicht vierzig oder mehr Meter lang war, gute fünfzehn Meter breit und dort, wo sich die Decke zu einem kunstvoll aus farbigem Glas gestalteten Kuppeldach emporschwang, mindestens zehn Meter hoch, wenn nicht mehr. In einer fast schon erschreckend großen Anzahl gläserner Vitrinen waren besonders kostbare Bücher und Handschriften ausgestellt, aber eine schier unvorstellbare Menge von Büchern - Zehn-, wenn nicht Hunderttausende! - war in endlosen Reihen von Regalen untergebracht, die jeden Zentimeter der Wände beanspruchten und sich bis unter die Decke hinaufzogen. Auf halber Höhe - in drei bis fünf Metern, schätzte Leonie - lief eine Galerie mit einem kunstvoll geschnitzten Holzgeländer entlang und auch dort standen Bücher, Bücher, Bücher.