»Na?«, fragte Großmutter. Ihre Augen leuchteten. »Habe ich zu viel versprochen?«
Irgendwie wirkte sie immer noch ein bisschen unsicher, fand Leonie. Und auch sie selbst fühlte sich irgendwie... irreal. Aber es war ihr nicht möglich, das Gefühl in Worte zu kleiden. Irgendetwas hier war... falsch. Aber auf eine vollkommen absurde Art... richtig falsch.
Leonie schüttelte wortlos den Kopf und den ehrfürchtigen Ausdruck, der sich dabei auf ihrem Gesicht breit machte, musste sie dieses Mal nicht einmal schauspielern. Sie war beeindruckt, und das weit mehr, als sie sich selbst erklären konnte. Es war ja keineswegs so, als wäre sie das erste Mal in einer Bibliothek. Dass sie Discman und MP3-Player gedruckten Büchern vorzog, änderte nichts daran, dass sie praktisch in einer Buchhandlung aufgewachsen war und schon mehr als eine wirklich große Bibliothek gesehen hatte.
Aber das hier war... anders.
Leonie konnte den Unterschied gar nicht richtig in Worte fassen, aber er war da, und er war einfach zu deutlich, um ihn mit einem bloßen Achselzucken abzutun.
Es begann mit dem Geruch. Es roch nach Büchern, aber eben nicht nur. Da war noch mehr; etwas, von dem Leonie ganz genau wusste, dass sie es noch nie zuvor gerochen hatte, und das ihr trotzdem auf fast schon gespenstische Weise vertraut war. Vor allem aber verstand sie plötzlich ganz genau, was ihre Großmutter vorhin hatte sagen wollen. Sie spürte plötzlich, dass all diese Bücher rings um sie herum viel mehr als nur eine gewaltige Masse bedruckten Papiers waren. Leonie weigerte sich selbst jetzt noch in Gedanken, das Wort zu benutzen, aber im Grunde wusste sie sehr wohl, was es war, das sie für einen Moment wie erstarrt innehalten und erschauern ließ: Ehrfurcht.
»Da hinten ist der Professor!« Großmutters Stimme riss Leonie zurück in die Wirklichkeit, aber etwas von dem sonderbaren Gefühl, das sie für einen Moment überkommen hatte, blieb.
Nur dass es ihr jetzt fast ein bisschen unheimlich war.
Leonie versuchte ihre Gedanken zu ordnen, während sie ihrer Großmutter folgte, die lächelnd einem Mann entgegenging, bei dem es sich einfach um den Professor handeln musste: Er sah aus, als wäre er mindestens fünfhundert Jahre alt, und war auf eine Weise gekleidet, die an jedem anderen Platz der Welt einfach nur lächerlich gewirkt hätte, nur eben hier nicht. Er trug braune Cordhosen und ein abgewetztes, beigefarbenes Samtjackett, dessen Ellbogen und Manschetten mit kleinen Lederflicken verstärkt waren, eine altmodische Fliege und eine gewaltige Hornbrille, deren Gläser dicker zu sein schienen als die Böden von Cola-Flaschen. Er war fast kahlköpfig, aber die wenigen Haare, die ihm verblieben waren, hatte er sich lang wachsen lassen und zu einem albernen Pferdeschwanz zusammengebunden, der kaum so dick wie ein Babyfinger war. Wäre Leonie nicht viel zu sehr damit beschäftigt gewesen, sich über ihre eigenen Gedanken zu wundern, dann wäre sie bei seinem Anblick wahrscheinlich in schallendes Gelächter ausgebrochen.
Aber da war noch etwas, das beinahe noch unheimlicher war. Obwohl sie wusste, dass es ganz und gar ausgeschlossen war, hatte sie das sichere Gefühl, den Professor zu kennen.
Gleichzeitig hatte sie fast Mühe, mit ihrer Großmutter Schritt zu halten, ohne über ihre eigenen Füße zu stolpern. Sie verstand einfach nicht, was mit ihr los war. Seit sie dieses sonderbare Gebäude betreten hatte, wandelten ihre Gedanken auf Pfaden, die ihr so unbekannt und vor allem unverständlich waren wie die einer Fremden.
Wohlgemut hatte Großmutter mittlerweile ebenfalls entdeckt und eilte ihr mit einem strahlenden Lächeln entgegen. Leonie hörte nicht hin, aber man konnte gar nicht übersehen, dass die beiden sich wie gute alte Freunde begrüßten. Danach wandte sich Wohlgemut an sie.
»Du musst Leonida sein. Deine Großmutter hat mir sehr viel von dir erzählt, aber ich glaube, das wäre gar nicht nötig gewesen. Weißt du, dass du ganz genauso aussiehst wie sie in deinem Alter?«
Leonie verzog das Gesicht. Sie hasste es, wenn sie mit dem Namen angesprochen wurde, der in ihrer Geburtsurkunde stand. Sie hasste auch ihre Eltern dafür, sie auf diesen Namen getauft zu haben. Wenigstens manchmal.
»Leonie«, entgegnete sie, während sie widerstrebend Wohlgemuts ausgestreckte Hand ergriff und sie schüttelte. »Meine Freunde nennen mich Leonie.« Sie starrte Wohlgemut an. Auf eine gespenstische Weise war ihr der greise Professor so vertraut, als kenne sie ihn schon seit Jahren.
»Du willst also in die Fußstapfen deiner Großmutter und deiner Eltern treten und ebenfalls Buchhändlerin werden«, sagte Wohlgemut. »Das freut mich aufrichtig, Leonie. Dass Kinder eine so alte Familientradition fortführen, kommt heute leider nur noch selten vor.«
»Ganz so weit sind wir noch nicht«, sprang ihre Großmutter ihr bei. »Im Moment geht es nur um ein Praktikum von zwei Wochen.«
»Und da haben Sie natürlich an die Zentralbibliothek gedacht, meine Liebe.« Wohlgemut lächelte geschmeichelt. »Eine sehr kluge Entscheidung. Wir nehmen zwar eigentlich seit Jahren keine Praktikanten mehr auf, aber in diesem Fall kann ich sicher eine Ausnahme machen.« Er wandte sich direkt an Leonie. »Falls die junge Dame überhaupt Interesse hat, heißt das.«
Leonie machte eine Bewegung, die irgendwo zwischen einem Kopfschütteln, einem Nicken und einem Achselzucken angesiedelt war und deren eigentliche Bedeutung sich Wohlgemut selbst aussuchen konnte.
»Vielleicht beginnen wir mit einem kleinen Rundgang durch die Bibliothek«, schlug Wohlgemut vor. »Möglicherweise änderst du deine Meinung ja noch, wenn du erst einmal alles gesehen hast.«
»Es lohnt sich wirklich«, versprach Großmutter. »Professor Wohlgemuts Führungen waren früher legendär, aber seit ein paar Jahren veranstaltet er sie nur noch für ganz ausgesuchte Gäste.«
Und wie sich zeigte, war das keineswegs übertrieben. Es fiel Leonie am Anfang verständlicherweise schwer, Wohlgemuts Erklärungen und Ausführungen zu folgen, aber nach und nach schlugen sie seine Worte doch in ihren Bann. Was Wohlgemut erzählte, war einfach zu interessant - selbst für jemanden, der Bücher normalerweise nur dazu benutzte, Fliegen zu erschlagen oder sie hoch genug aufzustapeln, damit man sie als Leiter benutzen konnte, um an die CDs auf dem obersten Regalbrett heranzukommen.
Sie erfuhr, dass die Bibliothek offiziell schon seit mehr als dreihundert Jahren existierte, in Wirklichkeit aber sehr viel älter sein musste. Niemand wusste genau, wann die ersten Mönche angefangen hatten, uralte Handschriften und Pergamente in den Mauern des Klosters zu sammeln, das früher einmal an dieser Stelle gestanden hatte, aber die Vermutungen reichten von fünfhundert Jahren bis zurück in eine Zeit, in der noch keltische Druiden über dieses Land geherrscht hatten. Seit dem siebzehnten Jahrhundert jedenfalls war das die Zentralbibliothek des ganzen Landes.
»Und wie viele Bücher haben Sie hier?«, fragte Leonie, als Wohlgemut - nach einer geschlagenen Stunde! - am Ende seines Vortrags angelangt war. Sie befanden sich auf einer der Galerien, die auf halber Höhe um den gesamten Raum herumführten, und Leonie hatte die Frage im Grunde nur gestellt, um Wohlgemuts endlosen Redefluss wenigstens für einen Moment zu unterbrechen. Was er zu erzählen hatte, war wirklich interessant, aber es war einfach zu viel. Leonie schwirrte der Kopf von all den Zahlen und Daten, mit denen der Professor sie zugeschüttet hatte.