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»Aber das weiß ich doch, mein lieber Professor«, unterbrach ihn Großmutter hastig - und mit einem raschen, leicht vorwurfsvollen Blick in Maus’ Richtung. »Es wird auch ganz bestimmt nicht noch einmal vorkommen. Leonies Bruder wusste nicht, dass Tiere hier nicht erlaubt sind.«

Wohlgemut seufzte. Leonie hatte das sichere Gefühl, dass er eigentlich etwas ganz anderes sagen wollte, aber dann räusperte er sich wieder gekünstelt, zwang sich zu einem leicht verkrampften Lächeln und ging vor Maus in die Hocke.

»Na ja, bei einer so wunderschönen Dame können wir ja vielleicht einmal eine Ausnahme machen«, sagte er, während Frank bereits den Bücherkatalog ablegte und die Hand ausstreckte, um Mausetod hinter den Ohren zu kraulen. Leonie wünschte, er hätte es nicht getan.

Nur einen Augenblick später wünschte sich Frank vermutlich dasselbe, denn Mausetod schlug so blitzartig zu, dass der junge Mann die Bewegung wahrscheinlich nicht einmal sah, sondern sich allerhöchstem wunderte, woher die vier dünnen, blutigen Kratzer auf seinem Handrücken kamen.

»Ups«, sagte Maus. Er machte sich nicht einmal die Mühe, Bedauern zu heucheln. »Ich hätte Ihnen vielleicht sagen sollen, dass sich Mausetod nur von mir anfassen lässt.«

»Mausetod?« Frank richtete sich mitsamt Bücherkatalog wieder auf und sah abwechselnd die blutigen Schrammen auf seiner Hand und die blauweiße Perserkatze an, die seinen Blick mit jener überzeugenden Unschuldsmiene erwiderte, zu der von allen lebenden Geschöpfen auf der Welt nur Katzen imstande sind. »Ein origineller Name für eine Katze.«

Mausetod fauchte zustimmend, sprang mit einem Satz zu Boden und verschwand blitzartig und mit steil aufgerichtetem Schwanz zwischen den Bücherregalen.

»Keine Sorge«, meinte Großmutter hastig. »Sie ist vollkommen stubenrein. Wahrscheinlich sucht sie nur nach einer Zwischenmahlzeit.«

»Mausetod frisst keine Mäuse!«, rief Maus empört.

»Da hätte sie hier auch Pech«, erwiderte Wohlgemut. »Obwohl all dieses Papier eigentlich ein Paradies für Mäuse sein müsste, haben wir nie ein Problem damit gehabt.«

»Ich könnte Ihnen sogar sagen, warum das so ist«, erklärte Maus.

»So?«

»Die Antwort auf die Frage, welche Rolle die Mäuse in dieser Geschichte spielen, steht auf den Seiten des Buches, die nie geschrieben wurden«, fuhr Maus fort und seufzte. »Wie so manches andere dieses Albtraums, durch den ich geschlittert bin bei dem Versuch, mein Leben zu retten - und dann ganz nebenbei auch deines, Leonie. Aber leider beginnen mir die Details dieser Geschichte zu entfallen und ich fürchte«, er sah plötzlich so aus, als wüsste er selbst gar nicht, wovon er eigentlich redete, »gleich werde ich alles vergessen haben, weil man das, was nie geschrieben wurde, natürlich auch nicht behalten kann...«

Wohlgemut und Frank sahen ihn verwirrt an, und auch Leonie blinzelte irritiert und setzte dazu an, eine entsprechende Frage zu stellen, doch in diesem Moment blieb ihr Blick an etwas Kleinem, Glitzerndem hängen, das Maus aus der Tasche gefallen sein musste, als die Katze von seinem Arm gesprungen war. Hastig bückte sie sich danach - und ihre Augen wurden zuerst groß vor Staunen und dann nahezu schwarz vor Zorn.

Es war die verchromte Piercing-Nadel, die sie am Morgen unter erheblichen Schmerzen und noch größerer seelischer Pein aus ihrer Unterlippe gepult hatte.

»Das ist meine Nadel«, murmelte sie. »Wo hast du sie her?«

Maus spielte perfekt den Ahnungslosen. »Deine?«, fragte er. »Tatsächlich?«

»Sie ist kaputt«, sagte Leonie vorwurfsvoll. Eine der beiden winzigen verchromten Kugeln fehlte und das Gewinde war hoffnungslos demoliert. »Was hast du damit gemacht, du kleine Eiterbeule?«

Großmutter sah sie strafend an, aber Wohlgemut beugte sich neugierig vor, um die kleine Silbernadel auf ihrer Handfläche näher zu betrachten. »Interessant. Wozu braucht man so etwas?«

»Oh, man kann alles Mögliche damit anfangen«, meinte Maus, bevor Leonie Gelegenheit fand, zu antworten. »Man kann sie als Gedankenstütze verwenden oder auch Schlösser damit knacken.« Er grinste Leonie unverschämt an. »Und natürlich kann man sie sich auch durch die Backe rammen und daraufwarten, dass man eine dicke Lippe kriegt und aussieht wie ein Kannibalen auf dem Kriegspfad.«

»Jetzt reicht’s aber, du elender kleiner...«, begann Leonie.

»Aber Kinder, bitte«, fiel ihr Großmutter ins Wort, zwar in strengem Ton, trotzdem aber mit einem ebenso milden wie verständnisvollen Lächeln. »Bitte hört doch auf zu streiten.«

Leonie spießte ihren Bruder mit Blicken regelrecht auf. Viel lieber hätte sie dasselbe zwar mit dem abgebrochenen Ende der Nadel getan, aber stattdessen begnügte sie sich damit, der Liste der Grausamkeiten, die sie ihm anzutun gedachte, noch ein paar hässliche Punkte hinzuzufügen, und schloss die Hand um die beschädigte Nadel. Und - seltsam - obwohl sie zu absolut nichts mehr zu gebrauchen und somit vollkommen wertlos war, durchströmte sie für einen Moment ein unendlich warmes, wohltuendes Gefühl, so als hielte sie den wertvollsten Schatz der Welt in der Hand.

»Professor Wohlgemut hat mir gerade gesagt, dass du schon morgen mit deinem Praktikum beginnen kannst, wenn du willst«, fuhr Großmutter nach einer kleinen Weile fort. »Was hältst du davon?«

Leonie sah ihre Großmutter nachdenklich an und wartete darauf, dass sich wieder dasselbe Entsetzen in ihr regte wie vorhin, als sie sich vorzustellen versucht hatte, wie es sein musste, zwischen all diesen verstaubten alten Büchern herumzukramen. Aber es kam nicht. Ganz im Gegenteil. Mit einem Mal fand sie die Idee gar nicht mehr so übel.

»Warum eigentlich nicht?«, fragte sie.

Ihre Großmutter strahlte und auch Wohlgemut sah auf eine sonderbar erleichterte Art zufrieden aus.

»Und wo wir schon einmal dabei sind«, rief Großmutter plötzlich, »wäre das jetzt vielleicht der richtige Moment, dich in eines der großen Geheimnisse unserer Familie einzuweihen.«

»Geheimnis?«, murmelte Leonie. Plötzlich hatte sie ein sehr merkwürdiges Gefühl. »Was für ein Geheimnis?«

Großmutter sah sie verschwörerisch an. »Eigentlich ist es eine reine Frauensache, aber es soll ja auch männliche Nachfahren in der Hüterinnenlinie geben, die über gewisse Fähigkeiten verfügen«, sagte sie mit einem Augenzwinkern in Maus’ Richtung.

»Besondere Fähigkeiten?«, fragte Leonie verblüfft.

»Aber ja.« Großmutter nickte fröhlich. »Indem sie sich zum Beispiel nicht nur mit Katzen hervorragend verstehen, sondern auch mit ihren ganz speziellen Freunden, den Mäusen - man könnte sogar fast sagen, mit einer ganz speziellen Art von Mäusen...«

»Conan«, flüsterte Leonie, ohne allerdings die geringste Ahnung zu haben, wie sie auf diesen Namen kam.

»Daher glaube ich, dass wir in diesem speziellen Fall eine Ausnahme machen können«, fuhr Großmutter fort, ohne auf Leonies Bemerkung einzugehen. »Am besten wir drei gehen erst einmal ein großes Eis essen und dann erzähle ich euch alles. Es ist eine etwas längere Geschichte, und sie hat etwas mit einem ganz besonderen Archivar zu tun, der... nun ja, man könnte sagen, uns nicht gerade freundlich gesonnen ist und alles daran setzt, unsere Sicht der Wirklichkeit zu verdrehen. Aber genau das werden wir verhindern, und du, Leonie, spielst dabei eine ganz besondere Rolle - denn in dir spüre ich die Gabe in einer fast unglaublichen Stärke. Und wenn du dann alles verstanden hast, werden wir zu meinem alten Freund Dr. Fröhlich fahren, damit er sicherstellt, dass du meine Nachfolge irgendwann einmal auch juristisch korrekt antreten kannst. Vater Gutfrieds Segen dazu hast du jedenfalls, davon bin ich überzeugt!«

Verwirrt, aber auch auf eine seltsame Weise aufgeregt, machte sich Leonie daran, ihrer Großmutter, Wohlgemut, Frank und Maus zu folgen, die bereits den Korridor hinuntergingen, und für den Bruchteil eines Lidschlages blieb ihr Blick an einem der geschnitzten Holzköpfe hängen, die die als Bücherregal getarnte Tür flankierten, und für den gleichen, unendlich kurzen Moment glaubte sie zu sehen, wie ihr das winzige Dämonengesicht gutmütig zublinzelte. Aber das war natürlich ganz und gar unmöglich.