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»Au!«, keuchte sie. »Bist du verrückt geworden? Ich will dir doch nichts tun!«

Die Maus schien das anders zu sehen. Sie sprang mit einem Satz vom Schreibtisch, flitzte unter das Bett und auf der anderen Seite wieder hervor und war bei der Tür, noch bevor Leonie auch nur die halbe Strecke zurückgelegt hatte.

»Das nutzt dir gar nichts«, sagte Leonie triumphierend. »Abgeschloss...«

Der Rest des Wortes blieb ihr buchstäblich im Hals stecken. Die Tür reichte wie die meisten Zimmertüren nicht ganz bis auf den Fußboden, aber Leonie wäre jede Wette eingegangen, dass der Spalt zwischen Boden und Tür nicht einmal breit genug war, um einen etwas dickeren Briefumschlag hindurchzuschieben.

Der Maus jedenfalls reichte er. Leonie beobachtete fassungslos, wie sich die Maus durch den winzigen Spalt quetschte und in der nächsten Sekunde verschwunden war. Bis auch sie endlich die Tür erreicht hatte und auf den Flur hinausgestürmt war, hatte das winzige Tierchen schon längst die Treppe erreicht und hüpfte behände die Stufen hinunter. Leonie folgte ihr zwar nicht annähernd so elegant, aber dafür umso schneller. Immer zwei, drei Stufen auf einmal nehmend, stürmte sie die Treppe hinab und wandte sich nach links in die Richtung, in die auch die Maus verschwunden war. Sie hatte gehofft, die Maus würde wieder in die Küche und von dort aus hinaus auf die Terrasse und in den Garten rennen, aber das genaue Gegenteil war der Falclass="underline" Die Maus rannte zum vorderen Teil des Hauses und damit in die Geschäftsräume - wo sich im Moment ihre Eltern aufhielten. Wenn ihr Vater den kleinen Nager zu Gesicht bekam, dann war es nicht nur um ihn geschehen, sondern er würde auch zwei und zwei zusammenzählen und Leonie eine Menge unangenehmer Fragen stellen. Sie versuchte noch schneller zu laufen, um die Katastrophe vielleicht im allerletzten Moment doch noch zu verhindern, aber sie verlor das ungleiche Rennen. Gerade als sie glaubte, es geschafft zu haben, flitzte die Maus unter der letzten Tür hindurch und Leonie verlor wertvolle Sekunden damit, die Türklinke herunterzudrücken und durch die Tür zu stürmen. Sie schaffte es gerade noch rechtzeitig in die Buchhandlung, um die Maus unter einem der Regale verschwinden zu sehen.

Und damit war die Jagd zu Ende. Leonie blieb abrupt stehen und konnte gerade noch ein lautstarkes, enttäuschtes Seufzen unterdrücken. Selbst wenn ihre Eltern nicht da gewesen wären, hätte sie keine Chance gehabt, den pelzigen Eindringling zu finden. Hier drinnen gab es buchstäblich Tausende von Verstecken für ein so winziges Wesen.

Wo waren ihre Eltern überhaupt? Im Geschäft brannte überall Licht und ihr Vater hatte ja selbst gesagt, dass sie hier waren, aber Leonie konnte sie nirgendwo entdecken. Nun ja, zumindest bedeutete das umgekehrt, dass auch sie nicht beobachtet hatten, wie sie auf nackten Füßen einer entflohenen Zirkusmaus hinterher rannte.

Trotzdem fragte sie sich, wo ihre Eltern waren.

Die Buchhandlung war alles andere als klein, aber so angelegt, dass man sie praktisch von jedem beliebigen Punkt aus vollkommen überblicken konnte. Leonie sah sich noch einen Moment lang verwirrt um und ging dann ins Büro hinüber, das nur aus einem winzigen Verschlag bestand, in dem gerade Platz für einen Schreibtisch und einen großen Fotokopierer war. Auch dort waren ihre Eltern nicht, aber sie entdeckte etwas anderes: Die Tür zum Heizungskeller stand offen und aus der Tiefe drang blasser Lichtschein herauf.

Leonie war verwirrt. Trotz seiner beeindruckenden Größe verfügte das Haus nur über einen kleinen, muffigen Kellerraum, in den man vor einer halben Ewigkeit die Zentralheizung hineingequetscht hatte. Sie fragte sich, was ihre Eltern dort unten suchten.

Es gab nur eine Möglichkeit, das herauszufinden.

Leonie zog die Tür weiter auf, lauschte einen Moment in die Tiefe (tatsächlich, es waren die Stimmen ihrer Eltern) und begann dann die ausgetretenen Stufen hinabzusteigen. Die Treppe war auf beiden Seiten von einer Mauer umgeben, sodass sie ihre Eltern immer noch nicht sehen konnte. Etwas daran war komisch. Die Stimme ihres Vaters klang ganz normal, wenn auch vielleicht ein bisschen nervös, aber die ihrer Mutter hörte sich sonderbar an, hohl und verzerrt, als schalle sie aus einem tiefen Brunnenschacht herauf.

Sie erreichte das Ende der Treppe, machte einen Schritt zur Seite - und erlebte eine Überraschung: Alles war so, wie sie es in Erinnerung hatte. Der Raum aus grobem, unverputztem Ziegelmauerwerk und mit seiner gewölbten Decke war so klein, dass einem schon der wuchtige Heizkessel das Gefühl gab, kaum noch richtig atmen zu können. Ihr Vater stand unmittelbar vor ihr und unterhielt sich mit immer nervöser werdender Stimme mit ihrer Mutter.

Bloß, dass ihre Mutter gar nicht da war.

Leonie beugte den Oberkörper seitwärts, um an ihrem Vater vorbeisehen zu können, obwohl sie wusste, wie sinnlos das war. Der Keller war so winzig, dass man jemanden, der sich darin aufhielt, gar nicht übersehen konnte.

»Es wäre mir wirklich lieber, wenn du wieder zurückkämst«, sagte ihr Vater in diesem Moment. »Wir sollten zuerst einmal...« Er brach mitten im Wort ab, drehte sich auf dem Absatz zu Leonie um und auf seinem Gesicht erschien ein Ausdruck blanken Entsetzens. »Was... was machst du denn hier?«, keuchte er.

»Mit wem sprichst du da?«

Leonie riss ungläubig die Augen auf. Das war die Stimme ihrer Mutter! Zwar noch immer auf dieselbe unheimliche Weise verzerrt, aber dennoch ganz zweifelsohne ihre Stimme. Doch sie war nirgends zu sehen. Vater und sie waren allein in dem winzigen Kellerraum.

»Leonie«, antwortete Vater. »Leonie ist gekommen.« Er fuhr sich unruhig mit der Zungenspitze über die Lippen. »Warte einen Moment. Bleib, wo du bist. Also, Leonie: Was tust du hier?«

Leonie war nicht nur zutiefst beunruhigt, sie verstand auch nicht, warum sie sich eigentlich rechtfertigen musste, nur weil sie ihren Eltern in den Keller nachgegangen war. Aber irgendetwas in den Augen ihres Vaters warnte sie davor, eine entsprechende Frage zu stellen.

»Ich habe eure Stimmen gehört«, antwortete sie. »Ich wollte wissen, wo ihr seid. Und... und du hast dich so besorgt angehört.«

»Das bin ich auch«, murmelte ihr Vater, auch wenn die Worte so klangen, als wären sie gar nicht für Leonie gedacht. Es war ihm anzusehen, wie unangenehm es ihm war, hier unten von seiner Tochter überrascht worden zu sein. Man hätte meinen können, sie hätte ihn dabei ertappt, wie er etwas Unanständiges oder Verbotenes tat.

»Sagtest du - Leonie?«

Die Stimme ihrer Mutter war immer noch da, ohne dass von ihr selbst auch nur die geringste Spur zu entdecken gewesen wäre. Sie schien direkt aus der Ziegelsteinmauer vor ihnen zu kommen!

»Was geht hier vor?«, flüsterte Leonie.

Ihr Vater hob unglücklich die Schultern. »Ich wollte, ich wüsste es.«

»Klaus?«, drang Mutters Stimme aus der Wand. »Was ist da los bei euch? Wieso ist Leonie bei dir?«

Absolut fassungslos trat Leonie endgültig an ihrem Vater vorbei, hob die Arme und streckte so vorsichtig die Hände aus, als rechne sie damit, eine glühende Herdplatte zu berühren. Aber der Stein war kalt, als sie ihn anfasste, und äußerst massiv.

»Was ist das?«, flüsterte sie. »Eine Geheimtür oder so was?«

»Zweifellos«, antwortete Vater. Er versuchte zu lächeln, aber es geriet eher zur Grimasse. »Allerdings muss sie schon ziemlich geheim sein, ich sehe sie nämlich gar nicht.«

»Ich auch nicht.« Leonie drückte fester zu, diesmal mit aller Kraft. Die Mauer rührte sich nicht, und wie konnte sie das auch?

»Was redet ihr da?« Mutters Stimme klang jetzt, als wäre sie ganz nah. »Ihr braucht doch nur die Klinke herunterzudrücken!«

»Was für eine Klinke?«, fragte Leonie. Sie warf ihrem Vater einen Hilfe suchenden Blick zu, bekam aber nur ein ratloses Achselzucken zur Antwort.

»Ihr nehmt mich auf den Arm, oder?« Mutters Stimme wurde jetzt eindeutig ärgerlich und dann stand sie plötzlich wie aus dem Nichts direkt vor ihnen. Leonie schlug die Hand vor den Mund, um einen Schrei zu unterdrücken, prallte zurück und stieß so heftig gegen ihren Vater, dass der seinerseits zurücktaumelte und gegen den Heizkessel knallte, der mit einem lautstarken Scheppern gegen die grobe Behandlung protestierte.