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»Was ist denn in euch gefahren?«, fragte Mutter und blickte irritiert von einem zum anderen. Ihr Haar war ein wenig durcheinander. Staubfäden klebten darin und graue Spinnweben. Ihr Gesicht war schmutzig und auch ihre Kleider waren alles andere als sauber, was Leonie ziemlich überraschte, denn ihre Mutter war eine sehr penible Frau, die äußersten Wert auf ihre Erscheinung legte.

»Was habt ihr denn?«, fragte sie noch einmal, als weder Leonie noch ihr Vater antworteten, sondern sie nur fassungslos anstarrten. »Ihr seht aus, als hättet ihr ein Gespenst gesehen.«

»Aber du... du bist... ich meine... du bist einfach aus der Wand...«, stammelte Leonie.

Ihre Mutter drehte den Kopf und maß die Ziegelsteinmauer, die Leonie aus weit aufgerissenen Augen anstarrte, mit einem verunsicherten Blick.

»Aus der Wand? Du meinst: Durch die Tür.«

»Was für eine Tür?«, fragte Vater. »Da ist keine Tür!«

Mutter blickte ihn nur böse an, drehte sich mit einem Ruck um, trat an die Wand heran und machte eine Bewegung, als würde sie nach einer Türklinke greifen und sie herunterdrücken. Dann trat sie zurück, wobei sie die imaginäre Türklinke mit sich zog. »Und was ist das?«, fragte sie triumphierend.

»Eine Wand«, antwortete Vater. Leonie nickte zustimmend. Ihre Mutter stand in einer schon fast komisch anmutenden Haltung da, die Hand immer noch auf einer unsichtbaren Türklinke und sogar ein wenig zur Seite geneigt, als stütze sie sich darauf ab. Aber da, wo ihrer Haltung nach eine - offen stehende - Tür sein musste, erblickte Leonie massives, uraltes Mauerwerk.

»Eine Wand.« Mutter zog eine Grimasse, ließ den gar nicht vorhandenen Türgriff los, trat durch die ebenso wenig vorhandene Tür und war verschwunden. Nur einen Augenblick später tauchte sie ebenso jäh wieder auf und fragte: »Und was war das?«

»Zauberei«, sagte Leonie. Ihr Vater sagte gar nichts.

»Sehr witzig«, erwiderte ihre Mutter. »Also gut, nachdem ihr euch jetzt lange genug über eure arme alte Ehefrau und Mutter lustig gemacht habt, können wir ja wieder ernst werden.«

»Das sind wir«, meinte ihr Vater. Er klang sehr ernst. Leonie glaubte sogar so etwas wie Panik aus seiner Stimme herauszuhören.

Mutter drehte sich um, verschwand wieder und tauchte abermals auf. Sie sah stirnrunzelnd von einem zum anderen, dann nickte sie. »Ihr seht sie nicht.«

»Nein«, bestätigte Vater. Leonie schwieg. Zögernd trat sie an ihrer Mutter vorbei, war aber klug genug, die Hände nach vorne zu strecken; so prellte sie sich nur die Fingerspitzen, statt sich die Nase an der Wand blutig zu schlagen.

Ihre Mutter sog ungläubig die Luft zwischen den Zähnen ein, als sie sah, wie Leonies Finger gegen einen Widerstand stießen, der für sie selbst offenbar völlig unsichtbar war; so wie umgekehrt für Leonie und ihren Vater die Tür. Ohne ein weiteres Wort trat sie zum dritten Mal durch die Tür, um einen Augenblick später wieder aufzutauchen.

»Das ist... sonderbar.« Vaters Stimme klang, als hätte er eigentlich ein anderes Wort im Sinn gehabt.

»Ihr seht sie wirklich nicht?«, vergewisserte sich Leonies Mutter. Ihre Stimme zitterte leicht.

»Nein«, bestätigte Vater. »Warum beschreibst du uns nicht, was du siehst?«

»Eine Tür«, antwortete Mutter. »Eine sehr alte Tür. Dunkel. Aus schwerem Holz, mit jeder Menge Schnitzereien. Schmiedeeiserne Ziernägel. Sie hat kein Schloss und sie sieht aus, als wäre sie sehr schwer, aber sie bewegt sich federleicht.«

»Aber so eine Tür gibt es nicht«, beharrte Leonie. »Schon gar nicht in unserem Keller.«

Mutter schwieg eine ganze Weile. Schließlich meinte Sie zögernd: »Jetzt, wo du es sagst... bisher ist sie mir wirklich nicht aufgefallen.«

»Aufgefallen?!«, ächzte Vater. »Wir leben seit über dreißig Jahren in diesem Haus. Und du sagst, da wäre eine Tür, die dir bisher noch gar nicht aufgefallen ist?«

Leonies Mutter wirkte etwas ratlos - und auch ein kleines bisschen betroffen -, aber sie sagte nichts, sondern verschwand nun zum vierten Mal durch die nicht vorhandene Tür und tauchte gleich darauf wieder auf.

»Ich wünschte mir, du würdest es nicht tun«, sagte Vater unsicher. »Es ist...« Er schluckte. »Es macht mich nervös. Ein wenig jedenfalls.«

»Was ist dahinter?«, fragte Leonie.

Ihre Mutter hob unglücklich die Schultern. »Ein Gang. Ich konnte nicht viel erkennen, weil es zu dunkel war, aber ich hatte das Gefühl, dass er sehr lang ist. Ich brauchte eine Lampe.«

»Du gehst da nicht rein, solange wir nicht wissen, wohin dieser Gang führt«, sagte Vater bestimmt. »Und was dahinter ist.«

»So?«, fragte Mutter. »Soll ich nicht?« Ihre Augen blitzten kampflustig. Sie drehte sich um und war weg. »Irgendwie habe ich das Gefühl, dass ich es doch tue«, drang ihre Stimme unheimlich aus der Wand.

»Anna, bitte!« Vater machte einen raschen Schritt auf die Wand zu und ächzte, als er wuchtig gegen die Ziegelsteinmauer prallte.

Die Antwort bestand aus einem hellen Lachen, das direkt aus der Wand kam. »Wenn du wüsstest, wie komisch das von hier aussieht.«

»Ja, in der Tat.« Vater trat wieder zwei Schritte zurück und betastete mit spitzen Fingern sein Gesicht, wie um sich davon zu überzeugen, dass auch noch alles an Ort und Stelle war. »Sehr komisch, wirklich.«

Mutter lachte zwar erneut, aber sie tauchte auch nach ein paar Sekunden wieder auf, griff nach dem unsichtbaren Türgriff und drückte die ebenso unsichtbare Tür in ein genauso unsichtbares Schloss. Es hätte komisch aussehen müssen, aber der Anblick jagte Leonie ganz im Gegenteil einen eisigen Schauer über den Rücken.

»Jetzt besorgen wir uns erst einmal eine Taschenlampe«, erklärte ihre Mutter geschäftig. »Dort drinnen ist es stockfinster. Ich bin nur ein paar Schritte weit gegangen, danach konnte ich nichts mehr sehen.«

Irgendetwas an dieser Behauptung kam Leonie seltsam vor. Die Staubfäden in Mutters Haar und der Schmutz auf ihrem Gesicht und an ihren Kleidern sahen eigentlich nicht so aus, als wäre sie nur ein paar Schritte weit gegangen - aber andererseits konnte sie sich auch kaum vorstellen, dass Mutter sie belog. Warum sollte sie auch?

»Kommt überhaupt nicht in Frage«, sagte Vater bestimmt. »Wir wissen nicht, wohin dieser Gang führt und was darin lauert. Es ist viel zu gefährlich.« Wie um seinen Worten zusätzlichen Nachdruck zu verleihen, trat er an Mutter vorbei und nahm mit vor der Brust verschränkten Armen vor der Wand Aufstellung, wo die Geheimtür war - oder zumindest dort, wo er sie vermutete.

»Sei nicht albern«, erwiderte Mutter. »Was soll da schon lauern? Ein Geist vielleicht oder Menschen fressende Ungeheuer?« Sie lachte, aber ihre Worte ließen Leonie einen weiteren, noch kälteren Schauer über den Rücken laufen.

Vater schüttelte stur den Kopf. »Es reicht ja schon, wenn dir das alte Gemäuer über dem Kopf zusammenbricht.« Er seufzte. Seine Stimme wurde versöhnlicher, ohne dabei eine Spur ihrer Entschlossenheit einzubüßen. »Sag mal, Anna, fällt dir eigentlich nicht auf, wie merkwürdig du dich benimmst?«

»Merkwürdig?«

»Vorsichtig formuliert«, bestätigte Vater. »Um Gottes willen, Anna! Wir leben seit dreißig Jahren in diesem Haus und plötzlich erscheint dir eine Tür, die vorher eindeutig nicht da war! Nicht genug damit: Diese Tür kannst nur du sehen, und du bist noch dazu die Einzige, die auch hindurchgehen kann! Findest du das nicht auch ein wenig seltsam?«

Leonie blickte ihre Eltern an und dann die Stelle an der Wand, wo die geheimnisvolle Tür war. Und plötzlich, für einen winzigen Moment, war ihr alles klar. Plötzlich wusste sie, was all das zu bedeuten hatte und auch was hinter dieser Tür lag. Aber der Gedanke entschlüpfte ihr, bevor sie danach greifen konnte.