»Hast du früher hier gearbeitet?«, erkundigte sich Leonie.
»Weil ich mich hier auskenne und wegen Albert und dem Professor?« Großmutter schüttelte lächelnd den Kopf. »O nein, ich war immer nur eine kleine Buchhändlerin mit einem noch kleineren Laden, in den sich kaum noch Kunden verirren. Aber wenn man sein Leben mit Büchern verbringt und noch dazu das große Glück hat, in dieser Stadt zu wohnen, dann kann man gar nicht anders, als die Zentralbibliothek kennen zu lernen.«
Sie hatten eine gewaltige zweiflügelige Tür erreicht, die mindestens drei Meter hoch war und aussah, als wöge sie eine Tonne. Großmutter machte auch keine Anstalten, sie zu öffnen, sondern drückte einen Klingelknopf, der an der Wand daneben angebracht war. »Ich finde es einen wunderschönen Gedanken, dass etwas, das ein Mensch vor über hundert Jahren niedergeschrieben hat, noch immer da ist. Der Mensch selbst ist schon lange verschwunden, und vielleicht sogar schon vergessen, aber seine Gedanken sind immer noch da. Bücher sind Boten aus der Vergangenheit, weißt du? Botschaften aus der Vergangenheit für die Menschen der Zukunft. Wie kleine Zeitmaschinen.« Sie sah Leonie Beifall heischend an. »Das müsste dir doch gefallen. Das sind doch die Geschichten, die ihr jungen Leute heutzutage lest, oder? Wie nennt ihr sie doch gleich? Zukunftsromane?«
»Science-Fiction«, antwortete Leonie. »Aber Science-Fiction ist out. Heute ist Fantasy angesagt.«
»Fantasie, so.« Großmutter sprach es irgendwie so aus, dass man die deutsche Schreibweise hörte. »Früher nannte man es Märchen, glaube ich. Aber das Wort gefällt mir auch.«
Die Tür wurde geöffnet und eine junge Frau, der man die Sekretärin so deutlich ansah, als hätte sie sich ihre Berufsbezeichnung auf die Stirn tätowieren lassen, blickte Großmutter fragend an. Leonie lächelte ganz automatisch, aber sie war auch ein ganz kleines bisschen verwirrt: Abgesehen von dem Altersunterschied (der gute sechzig Jahre betragen musste) hätte die junge Frau eine Schwester ihrer Großmutter sein können.
»Guten Tag«, begann Großmutter. »Der Herr Professor erwartet uns.«
»Professor Wohl...« Das Gesicht der Sekretärin hellte sich auf. »Sie müssen Frau Kammer sein. Ja, der Herr Professor hat mich informiert.« Sie trat einen halben Schritt zurück und machte eine einladende Handbewegung. »Wenn Sie einen Moment hereinkommen, erkläre ich Ihnen den Weg.«
Großmutter gehorchte, aber als Leonie ihr folgen und ebenfalls durch die Tür treten wollte, machte die dunkelhaarige junge Frau eine knappe, aber sehr entschiedene Bewegung. »Es tut mir Leid«, sagte sie. »Aber Unbefugten ist das Betreten der Verwaltungsräume streng verboten.«
»Was soll denn der Unsinn?«, murrte Leonie. »Haben Sie Angst, dass ich...«
Sie verstummte, als sie einen mahnenden Blick aus Großmutters Augen auffing. Wäre sie allein gewesen, hätte sie dieser eingebildeten Tussi gehörig die Meinung gesagt, aber sie wollte Großmutter nicht in Verlegenheit bringen. So beließ sie es bei einem Achselzucken und einem trotzigen Blick und trat wieder zurück. Die Tür wurde geschlossen und Leonie sah sich gelangweilt um. Sie hoffte, dass es nicht zu lange dauerte. Andererseits - dieser Tag war sowieso im Eimer. Was machten da schon ein paar Minuten?
Auf der anderen Seite der schweren Tür ertönte ein dumpfes Poltern, dann etwas, das beinahe wie ein Schrei klang, und schließlich wieder etwas wie ein Poltern. Leonie starrte die Tür alarmiert an - doch noch bevor sie auch nur Gelegenheit hatte, wirklich zu erschrecken, ging die Tür wieder auf und ihre Großmutter kam heraus.
»Was war los?«, fragte Leonie.
»Nichts«, antwortete Großmutter. Sie strich sich eine Strähne ihres dünnen grauen Haares zurück, die ihr in die Stirn gerutscht war, und fuhr in der gleichen Bewegung glättend über ihre Kleidung. Sie wirkte ein bisschen zerrupft, fand Leonie. Sie fragte sich, was in dem Raum hinter der geschlossenen Tür passiert war. Als Großmutter die Tür hinter sich ins Schloss zog, ohne dass die Sekretärin ihr folgte oder sie sie auch nur zu Gesicht bekommen hatten, kleidete sie ihre Frage in weitere Worte.
»Nichts«, wiederholte ihre Großmutter, allerdings in so ruppig-unwilligem Ton, dass Leonie nur erstaunt die Augen aufriss und es vorzog, die Frage nicht noch einmal zu stellen. So kannte sie ihre Großmutter gar nicht.
Großmutter wandte sich um und bedeutete Leonie mit einer entsprechenden Handbewegung, ihr zu folgen. Sie ging den Flur in umgekehrter Richtung zurück, am Lift vorbei und durch mehrere Türen, und mit jeder Tür, die sie durchschritten, konnte sie ein bisschen besser verstehen, was Großmutter gerade gemeint hatte, als sie von einer Zeitmaschine sprach. Es war tatsächlich wie eine kleine Zeitreise, denn sie bewegten sich eindeutig mit jedem Schritt ein winziges Stückchen weiter in die Vergangenheit. Die Türen wurden älter und hatten jetzt schwere, kunstvoll geschmiedete Griffe und Beschläge aus Messing, die ausgetretenen Bodendielen, über die sie gingen, knirschten unter ihren Füßen, und unter den Decken hingen keine Neonröhren mehr, sondern schimmernde Kristalllüster; und dann öffnete Großmutter eine letzte Tür und der Schritt hindurch schien endgültig der in ein lange zurückliegendes Jahrhundert zu sein.
Leonie war noch nie hier gewesen, aber ihr war sofort klar, dass das der große Saal sein musste, von dem Großmutter erzählt hatte - wobei die Betonung eindeutig auf dem Wort groß lag.
Sie war niemals in einem größeren Raum gewesen und sie hatte niemals mehr Bücher an einem Ort versammelt gesehen. Leonie schätzte, dass der Saal mindestens dreißig, wenn nicht vierzig oder mehr Meter lang war, gute fünfzehn Meter breit und dort, wo sich die Decke zu einem kunstvoll aus farbigem Glas gestalteten Kuppeldach emporschwang, mindestens zehn Meter hoch, wenn nicht mehr. In einer fast schon erschreckend großen Anzahl gläserner Vitrinen waren besonders kostbare Bücher und Handschriften ausgestellt, aber eine schier unvorstellbare Menge von Büchern - Zehn-, wenn nicht Hunderttausende! - war in endlosen Reihen von Regalen untergebracht, die jeden Zentimeter der Wände beanspruchten und sich bis unter die Decke hinaufzogen. Auf halber Höhe - in drei bis fünf Metern, schätzte Leonie - lief eine Galerie mit einem kunstvoll geschnitzten Holzgeländer entlang und auch dort standen Bücher, Bücher, Bücher.
»Na?«, fragte Großmutter. Ihre Augen leuchteten. »Habe ich zu viel versprochen?«
Leonie schüttelte wortlos den Kopf und den ehrfürchtigen Ausdruck, der sich dabei auf ihrem Gesicht breit machte, musste sie dieses Mal nicht einmal schauspielern. Sie war beeindruckt, und das weit mehr, als sie sich selbst erklären konnte. Es war ja keineswegs so, als wäre sie das erste Mal in einer Bibliothek. Dass sie Discman und MP3-Player gedruckten Büchern vorzog, änderte nichts daran, dass sie praktisch in einer Buchhandlung aufgewachsen war und schon mehr als eine wirklich große Bibliothek gesehen hatte.
Aber das hier war... anders.
Leonie konnte den Unterschied gar nicht richtig in Worte fassen, aber er war da und er war einfach zu deutlich, um ihn mit einem bloßen Achselzucken abzutun.
Es begann mit dem Geruch. Es roch nach Büchern, aber eben nicht nur. Da war noch mehr; etwas, von dem Leonie ganz genau wusste, dass sie es noch nie zuvor gerochen hatte, und das ihr trotzdem auf fast schon gespenstische Weise vertraut war. Vor allem aber verstand sie plötzlich ganz genau, was ihre Großmutter vorhin hatte sagen wollen. Sie spürte plötzlich, dass all diese Bücher rings um sie herum viel mehr als nur eine gewaltige Masse bedruckten Papiers waren. Leonie weigerte sich selbst jetzt noch in Gedanken, das Wort zu benutzen, aber im Grunde wusste sie sehr wohl, was es war, das sie für einen Moment wie erstarrt innehalten und erschauern ließ: Ehrfurcht.
»Da hinten ist der Professor!« Großmutters Stimme riss Leonie zurück in die Wirklichkeit, aber etwas von dem sonderbaren Gefühl, das sie für einen Moment überkommen hatte, blieb.