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Nur dass es ihr jetzt fast ein bisschen unheimlich war.

Leonie versuchte ihre Gedanken zu ordnen, während sie ihrer Großmutter folgte, die lächelnd einem Mann entgegenging, bei dem es sich einfach um den Professor handeln musste: Er sah aus, als wäre er mindestens fünfhundert Jahre alt, und war auf eine Weise gekleidet, die an jedem anderen Platz der Welt einfach nur lächerlich gewirkt hätte, nur eben hier nicht. Er trug braune Cordhosen und ein abgewetztes, beigefarbenes Samtjackett, dessen Ellbogen und Manschetten mit kleinen Lederflicken verstärkt waren, eine altmodische Fliege und eine gewaltige Hornbrille, deren Gläser dicker zu sein schienen als die Böden von Cola-Flaschen. Er war fast kahlköpfig, aber die wenigen Haare, die er noch hatte, hatte er sich lang wachsen lassen und zu einem albernen Pferdeschwanz zusammengebunden, der kaum so dick wie ein Babyfinger war. Wäre Leonie nicht viel zu sehr damit beschäftigt gewesen, sich über ihre eigenen Gedanken zu wundern, dann wäre sie bei seinem Anblick wahrscheinlich in schallendes Gelächter ausgebrochen.

So allerdings hatte sie Mühe, mit ihrer Großmutter Schritt zu halten, ohne über ihre eigenen Füße zu stolpern. Sie verstand einfach nicht, was mit ihr los war. Seit sie dieses sonderbare Gebäude betreten hatte, wandelten ihre Gedanken auf Pfaden, die ihr so unbekannt und vor allem unverständlich waren wie die einer Fremden.

Wohlgemut hatte Großmutter mittlerweile ebenfalls entdeckt und eilte ihr mit einem strahlenden Lächeln entgegen. Leonie hörte nicht hin, aber man konnte gar nicht übersehen, dass die beiden sich wie gute alte Freunde begrüßten. Danach wandte sich Wohlgemut an sie.

»Du musst Leonida sein. Deine Großmutter hat mir sehr viel von dir erzählt, aber ich glaube, das wäre gar nicht nötig gewesen. Weißt du, dass du ganz genauso aussiehst wie sie in deinem Alter?«

Leonie verzog das Gesicht. Sie hasste es, wenn sie mit dem Namen angesprochen wurde, der in ihrer Geburtsurkunde stand. Sie hasste auch ihre Eltern dafür, sie auf diesen Namen getauft zu haben. Wenigstens manchmal.

»Leonie«, entgegnete sie, während sie widerstrebend Wohlgemuts ausgestreckte Hand ergriff und sie schüttelte. »Meine Freunde nennen mich Leonie.«

»Freunde?« Wohlgemut verzog die Lippen zu einem hässlichen Grinsen. »Du willst mir doch nicht weismachen, dass eine so hässliche, kleine Schlampe wie du Freunde hat?«

Leonie riss ungläubig die Augen auf. »Wie?!«, krächzte sie.

»Ich sagte: Leonie ist auch ein hübscher Name und wahrscheinlich passt er besser in die heutige Zeit«, antwortete Wohlgemut.

»Nein, das meine ich nicht«, erwiderte Leonie. Wohlgemut wollte seine Hand zurückziehen, aber sie ließ nicht los, sondern verstärkte ihren Griff im Gegenteil noch ein bisschen. Sie war kräftig für ihr Alter - und erst recht für ein Mädchen; die mindestens drei Stunden wöchentlich im Fitness-Studio hatten nicht nur ihrer Figur gut getan. »Ich meine das, was Sie vorher gesagt haben.«

»Dass du aussiehst wie deine Großmutter vor siebzig Jahren? Das ist die Wahrheit.«

»Nein, nicht das«, beharrte Leonie. Wohlgemut blinzelte, und wenn Leonie jemals einen Ausdruck von echtem Unverständnis auf dem Gesicht eines Menschen gesehen hatte, dann jetzt auf seinem. Auch ihre Großmutter blickte sie verstört und fast ein bisschen erschrocken an und plötzlich meldete sich ihr schlechtes Gewissen. Hastig ließ sie Wohlgemuts Hand los.

»Ich... Entschuldigung«, murmelte sie. »Ich muss wohl... irgendetwas falsch verstanden haben.« Nein, verdammt, das hatte sie nicht. Sie hatte ganz genau gehört, was er gesagt hatte, und sie hatte sich auch sein hässliches Grinsen nicht eingebildet. Sie war doch nicht verrückt! Aber Wohlgemut blickte sie nur weiter vollkommen verständnislos an, und auch Großmutter hatte sich noch nicht wieder ganz gefangen. Was ging hier vor?

»Ja, das mhm... scheint mir auch so«, sagte Wohlgemut unsicher. Er wich einen Schritt vor Leonie zurück und begann seine rechte Hand mit der linken zu kneten und Leonies schlechtes Gewissen verstärkte sich. Dieser Mann musste die neunzig lange hinter sich haben. Vermutlich hatte sie ihm sehr wehgetan, und was immer er auch zu ihr gesagt hatte oder nicht - so etwas stand ihr einfach nicht zu!

»Entschuldigung«, sagte sie noch einmal. »Es tut mir Leid.«

»Schon gut.« Wohlgemut machte eine großmütige Geste mit der - unversehrten linken - Hand und zwang sich zu einem leicht gequälten Lächeln, während Großmutter, die anscheinend erst jetzt überhaupt begriff, was ihre Enkelin getan hatte, plötzlich aussah, als würde sie vor Scham am liebsten im Boden versinken.

»Du willst also in die Fußstapfen deiner Großmutter und deiner Eltern treten und ebenfalls Buchhändlerin werden.« Wohlgemuts Versuch, das Thema zu wechseln, wirkte ebenso gezwungen wie ihr eigenes Lächeln in diesem Augenblick. »Das freut mich aufrichtig, Leonie. Dass Kinder eine so alte Familientradition fortführen, kommt heute leider nur noch selten vor.«

Nach dem, was gerade passiert war, wagte es Leonie einfach nicht, ihm zu widersprechen, aber das änderte nichts daran, dass der Professor so weit am Ziel vorbeigeschossen war, wie es überhaupt nur ging. Leonie hätte ohne nachzudenken hundert Berufe nennen können, die sie lieber ergreifen würde, oder auch tausend.

»Ganz so weit sind wir noch nicht«, sprang ihre Großmutter ihr bei. »Im Moment geht es nur um ein Praktikum von zwei Wochen.«

»Und da haben Sie natürlich an die Zentralbibliothek gedacht, meine Liebe.« Wohlgemut lächelte geschmeichelt. »Eine sehr kluge Entscheidung. Wir nehmen zwar eigentlich seit Jahren keine Praktikanten mehr auf, aber in diesem Fall kann ich sicher eine Ausnahme machen.« Er wandte sich direkt an Leonie. »Falls die junge Dame überhaupt Interesse hat, heißt das.«

Leonie machte eine Bewegung, die irgendwo zwischen einem Kopfschütteln, einem Nicken und einem Achselzucken angesiedelt war und deren eigentliche Bedeutung sich Wohlgemut selbst aussuchen konnte.

»Na, wir werden uns schon vertragen«, drohte er. »Und wenn nicht, dann prügeln wir dir eben so lange Verstand in dein kleines Spatzenhirn, bis du begreifst, was wir von dir wollen.«

Leonie ächzte. Also gut, offenbar war sie es, die verrückt wurde.

»Vielleicht beginnen wir mit einem kleinen Rundgang durch die Bibliothek«, schlug Wohlgemut vor. Leonies verstörte Reaktion war ihm natürlich nicht entgangen, aber anscheinend verstand er sie so wenig wie ihre Frage von vorhin. »Möglicherweise änderst du deine Meinung ja noch, wenn du erst einmal alles gesehen hast.«

»Es lohnt sich wirklich«, versprach Großmutter. »Professor Wohlgemuts Führungen waren früher legendär, aber seit ein paar Jahren veranstaltet er sie nur noch für ganz ausgesuchte Gäste.«

Und wie sich zeigte, war das keineswegs übertrieben. Es fiel Leonie am Anfang verständlicherweise schwer, Wohlgemuts Erklärungen und Ausführungen zu folgen, aber nach und nach schlugen sie seine Worte doch in ihren Bann und schließlich vergaß sie sogar den unheimlichen Zwischenfall. Was Wohlgemut erzählte, war einfach zu interessant - selbst für jemanden, der Bücher normalerweise nur dazu benutzte, Fliegen zu erschlagen oder sie hoch genug aufzustapeln, damit man sie als Leiter benutzen konnte, um an die CDs auf dem obersten Regalbrett heranzukommen.

Sie erfuhr, dass die Bibliothek offiziell schon seit mehr als dreihundert Jahren existierte, in Wirklichkeit aber sehr viel älter sein musste. Niemand wusste genau, wann die ersten Mönche angefangen hatten, uralte Handschriften und Pergamente in den Mauern des Klosters zu sammeln, das früher einmal an dieser Stelle gestanden hatte, aber die Vermutungen reichten von fünfhundert Jahren bis zurück in eine Zeit, in der noch keltische Druiden über dieses Land geherrscht hatten. Seit dem siebzehnten Jahrhundert jedenfalls war das die Zentralbibliothek des ganzen Landes.