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»Und wie viele Bücher haben Sie hier?«, fragte Leonie, als Wohlgemut - nach einer geschlagenen Stunde! - am Ende seines Vortrags angelangt war. Sie befanden sich auf einer der Galerien, die auf halber Höhe um den gesamten Raum herumführten, und Leonie hatte die Frage im Grunde nur gestellt, um Wohlgemuts endlosen Redefluss wenigstens für einen Moment zu unterbrechen. Was er zu erzählen hatte, war wirklich interessant, aber es war einfach zu viel. Leonie schwirrte der Kopf von all den Zahlen und Daten, mit denen der Professor sie zugeschüttet hatte.

»So ungefähr zweihunderttausend«, antwortete Wohlgemut stolz.

»Das ist eine Menge«, sagte Leonie automatisch, dann stutzte sie. »Äh... Moment. Großmutter hat erzählt, dass hier seit hundert Jahren ein Exemplar jedes Buches aufbewahrt wird, das im Land erscheint.«

»Seit hundertfünfzehn, um genau zu sein«, verbesserte sie Wohlgemut und blinzelte ihr zu. »Und auch jeder einzelnen Zeitschrift. Und jetzt wunderst du dich, weil es doch eigentlich viel mehr sein müssten in all der Zeit.« Er nickte heftig, um seine eigene Feststellung zu bestätigen. »Die zweihunderttausend sind natürlich nur die Exemplare, die wir hier oben aufbewahren, im historischen Teil der Bibliothek: alte Handschriften, unersetzliche Originale und sehr seltene Ausgaben. Alles andere lagern wir unten im Zentralarchiv im Keller.«

»Das muss aber ein wirklich großer Keller sein«, bemerkte Leonie. »Ich meine: Es müssen doch ein paar Millionen Bücher sein!«

»Viele Millionen sogar«, bestätigte Wohlgemut. Er lächelte geheimnisvoll. »Aber es ist auch ein wirklich großer Keller. Ich zeige ihn dir später einmal. Für heute sollten wir uns auf den historischen Teil konzentrieren, meine ich. Wir haben ja später Zeit genug und hier oben gibt es noch eine Menge interessanter Dinge. Dabei fällt mir ein...«, er wandte sich zu Großmutter um, »... erinnern Sie sich noch an die Handschrift von Walther von der Vogelweide, nach der ich so lange gesucht habe, meine Liebe?«

»Mehr als zehn Jahre, wenn ich mich richtig erinnere«, antwortete Großmutter. »Sagen Sie nicht, Sie haben sie bekommen?«

»Vor zwei Monaten«, bestätigte Wohlgemut. Er strahlte wie ein undichtes Atomkraftwerk. »Wollen Sie sie sehen?«

»Was für eine Frage!«, rief Großmutter.

»Und du?«, wandte sich Wohlgemut an Leonie.

Walther von der Vogelweide? Leonie verspürte einen kurzen, aber heftigen Anfall blanken Entsetzens. »Nicht... unbedingt«, antwortete sie vorsichtig. »Haben Sie vielleicht etwas von King da? Oder Clive Barker oder Jason Dark?«

Wohlgemut wirkte jetzt für einen Moment so hilflos, dass er Leonie beinahe Leid tat, aber nur beinahe. »Unten im Zentralarchiv sicher«, meinte er schließlich. »Aber hier...«

»Schon gut«, sagte Leonie. »Geht ihr nur ruhig zu eurer Handschrift. Ich warte so lange. Es gibt hier ja genug interessante Dinge, die ich mir ansehen kann. Bücher zum Beispiel.«

»Wunderbar!« Wohlgemut rieb sich ganz begeistert die Hände. »Kommen Sie, meine Liebe, kommen Sie. Ich freue mich schon seit Monaten darauf, Ihnen dieses Prachtexemplar zeigen zu können!«

Er hielt Großmutter den Arm hin und sie hakte sich bei ihm unter - ganz perfekter Gentleman und feine Lady gingen sie über die Galerie davon und die Treppe hinunter und Leonie blieb allein zurück. Zunächst war sie fast erleichtert, endlich einen Moment Ruhe zu haben, aber schon nach wenigen Minuten kam es ihr als eine gar nicht mehr so gute Idee vor, ganz allein hier zurückgeblieben zu sein, nur in Gesellschaft von Büchern. Sie kannte ihre Großmutter. Wenn sie erst einmal anfing, sich für ein bestimmtes Buch zu interessieren - oder gar für eine so kostbare Handschrift wie die, von der der Professor geschwärmt hatte! -, dann konnte es gut sein, dass sie alles andere um sich herum einfach vergaß; einschließlich ihrer Enkeltochter. Wenn sie Pech hatte, dann würde sie eine Stunde hier oben warten, oder auch zwei.

Aber das hatte sie sich schließlich selbst eingebrockt.

Leonie seufzte tief, drehte sich um und ließ ihren Blick über die Rücken der dicht an dicht stehenden Bücher schweifen. Einige davon waren so alt, dass die Schrift längst verblichen und unleserlich geworden war, und Leonie argwöhnte, dass das bei dem einen oder anderen Band nicht nur auf das Äußere zutraf.

Sie drehte sich weiter und hielt inne, als ihr Blick auf einen Riss zwischen zwei der schweren handgeschnitzten Bücherregale fiel. Eigentlich war es gar kein Riss, sondern ein Spalt von gut zwei Fingern Breite, und als Leonie näher trat, spürte sie, wie ihr ein kühler Lufthauch entgegenkam. Zögernd legte sie die Hand darauf und das gesamte Regal bewegte sich knirschend ein Stück nach innen. Leonie machte einen erschrockenen Schritt zurück und hätte am liebsten über ihre eigene Reaktion gelacht. Der Riss war kein Riss, so wenig wie das Regal ein einfaches Bücherregal war, vielmehr handelte es sich um eine Art Geheimtür, die in einen Raum dahinter zu führen schien, aus dem ein grauer, flackernder Lichtschein drang.

Urplötzlich war ihr Forscherdrang geweckt. Leonie sah sich noch einmal nach rechts und links um - nicht dass sie wirklich glaubte, etwas Verbotenes zu tun, aber so war es einfach spannender -, dann trat sie erneut an das Regal heran und drückte dagegen.

Angesichts des enormen Gewichtes, das die mindestens hundertfünfzig bis zweihundert Bücher auf die Regalbretter brachten, bewegte sich die Geheimtür überraschend leicht. Mit einem leisen, aber durchdringenden Quietschen schwang sie nach innen und Leonie trat mit klopfendem Herzen in den dahinter liegenden Raum.

Der voller Bücher war.

Leonie blieb geschlagene zehn Sekunden völlig reglos stehen und tat nichts anderes, als sich unbeschreiblich blöd vorzukommen. Was hatte sie denn erwartet in einer Bibliothek? Den Schatz der Nibelungen vielleicht? Sie schüttelte den Kopf, lächelte über ihre eigene Naivität und wollte sich umdrehen, um den Raum wieder zu verlassen, überlegte es sich dann aber anders und machte stattdessen einen weiteren Schritt hinein. Wenn sie schon einmal hier war, konnte sie sich ebenso gut auch noch ein bisschen umsehen.

Sie rechnete allerdings nicht ernsthaft damit, irgendetwas Außergewöhnliches zu entdecken. Wohlgemut hatte Worte wie kostbar, einzigartig und unersetzlich zwar äußerst verschwenderisch benutzt, aber sie glaubte nicht, dass die wirklich wertvollen Bücher in einer so staubigen Kammer aufbewahrt wurden. Ganz davon abgesehen, dass sie ein kostbares Buch selbst dann nicht erkennen würde, wenn es ihr vor die Füße fiele. Außerdem war es in der Kammer so dunkel, dass sie ohnehin nicht viel sehen konnte. Fast der gesamte vorhandene Platz wurde von bis unter die Decke reichenden Bücherregalen eingenommen, und die Scheiben des einzigen kleinen Fensters waren so verdreckt, dass das hereinfallende Licht zu einer Art grauer Nebel wurde, in dem sich die Umrisse der Dinge fortwährend auf schwer greifbare, aber beunruhigende Weise zu verändern schienen.

Nein, dachte Leonie schaudernd, das war gewiss nicht der Ort, um auf Großmutters Rückkehr zu warten.

Irgendetwas raschelte. Aus den Augenwinkeln sah Leonie einen Schemen vorbeihuschen, und für einen winzigen Moment glaubte sie, das Scharren kleiner, harter Krallen auf dem Fußboden zu hören. Leonie prallte ganz instinktiv einen Schritt zurück, und ein nicht kleiner Teil von ihr wollte nichts mehr, als auf der Stelle herumzufahren und aus dem Zimmer zu stürmen.

Stattdessen blieb sie stehen, lauschte angestrengt und versuchte noch konzentrierter, die graue Dämmerung vor sich mit Blicken zu durchdringen. War das eine Maus gewesen?

Leonie hatte die kleinen Nager weder besonders in ihr Herz geschlossen noch hatte sie hysterische Angst vor ihnen, aber sie war schließlich in einer Buchhändlerfamilie groß geworden und so wusste sie, dass Mäuse sozusagen der Todfeind jedes Bibliothekars waren. Unvorstellbar, wenn sie ein wertvolles Original von Goethes Faust anknabberte oder sich gar ein Nest aus Walther von der Vogelweides unersetzlicher Handschrift baute!