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Leonie ließ sich in die Hocke sinken, kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen und versuchte unter die Regale zu spähen. Sie sah nichts anderes als Staub, der möglicherweise schon an den Fußlappen der Druidenpriester aus Wohlgemuts Vortrag geklebt hatte, aber das Licht reichte nicht, um die winzigen Pfotenabdrücke einer Maus zu erkennen, die es möglicherweise ja gab, möglicherweise aber auch nicht. Leonie war mittlerweile nicht mehr sicher, ob sie die Bewegung wirklich gesehen oder sich nur eingebildet hatte. Dieses ganze uralte Gemäuer übte anscheinend einen unguten Einfluss auf ihre Fantasie aus. Sie wollte sich gerade wieder aufrichten, als sie ein Geräusch hinter sich hörte. Leonie fuhr in der Hocke herum.

Und da war die Maus.

Sie hatte sich nicht etwa unter einem Regal verkrochen, sondern saß nicht mal einen Meter hinter ihr, hatte sich auf die Hinterläufe aufgerichtet und sog schnüffelnd die Luft ein. Ihre winzigen Schnurrhaare zitterten und in ihren rehbraunen Augen stand ein Ausdruck, den Leonie ohne den geringsten Zweifel als Neugier bezeichnet hätte, wäre ihr nicht zugleich auch bewusst gewesen, dass das vollkommen unmöglich war. Mäuse waren zu einer so komplexen Empfindung wie Neugier gar nicht fähig. Offensichtlich handelte es sich um eine sehr dumme Maus, weil sie einfach dasaß und sie ohne die geringste Scheu anblickte, statt das zu tun, was jede halbwegs vernünftige Maus beim Anblick eines Menschen tut: um ihr Leben zu rennen!

Darüber hinaus war es eine ausgesprochen hübsche Maus.

»Wenn ich du wäre, dann würde ich jetzt die Beine in die Hand nehmen und wegrennen«, sagte Leonie.

Die Maus legte den Kopf auf die Seite und blickte sie an, als hätte sie die Worte verstanden. Was natürlich ganz und gar ausgeschlossen war.

»Was ist los mit dir?«, fragte Leonie. »Bist du lebensmüde oder einfach nur dreist?«

Die Maus legte den Kopf auf die andere Seite und blickte sie weiter aus ihren winzigen Knopfaugen an. Allmählich wurde Leonie ein bisschen mulmig zumute. Um ehrlich zu sein: mehr als nur ein bisschen.

»Oder bist du einfach nur dumm?«, fragte Leonie. »Überleg dir lieber, was du tust - bevor ich mir überlege, was ich mit dir tue.«

Die Maus legte den Kopf erneut auf die andere Seite und runzelte nachdenklich die Stirn. Das hieß: Natürlich tat sie das nicht. Es sah nur so aus. Mäuse runzelten nicht die Stirn. Das konnten sie gar nicht. Es war nur Einbildung gewesen.

Trotzdem zitterten Leonies Finger ganz leicht, als sie die Hand ausstreckte, um die Maus zu verscheuchen.

Jedenfalls wollte sie das tun.

Unglückseligerweise ließ sich der winzige Nager von ihrem heftigen Herumgefuchtel nicht im Geringsten beeindrucken. Er zog zwar den Kopf ein, um nicht getroffen zu werden, aber das war auch schon alles.

Leonie riss ungläubig die Augen auf, erstarrte mitten in der Bewegung - und die Maus sprang mit einem Satz auf ihre ausgestreckte Hand und begann ohne die geringste Spur von Hast an ihrem Arm in die Höhe zu klettern! Leonie war so perplex, dass sie einfach wie gelähmt dahockte und nicht einmal zu atmen wagte, bis die Maus auf ihrer rechten Schulter angekommen war, wo sie sich wieder aufsetzte und reckte, um ihr Gesicht aus nächster Nähe zu beschnüffeln. Sie tat es sehr ausgiebig, bestimmt eine oder zwei Minuten lang, dann machte sie kehrt und trippelte in aller Seelenruhe den Weg zurück, den sie gekommen war, sprang wieder zu Boden und verschwand unter einem der Regale. Aber bevor sie das tat, hielt sie noch einmal kurz inne, blickte zu Leonie zurück und lächelte.

Leonie blinzelte, und als sie die Augen wieder aufschlug, war die Maus verschwunden. Ihr Herz raste, und sie merkte erst jetzt, dass sie am ganzen Leib zitterte. Für einen winzigen Moment drohte sie in Panik zu geraten. Sie wollte aufstehen, aber sie hatte mehrere Minuten in der Hocke verbracht und ihre Muskeln waren so verkrampft, dass sie drei Anläufe brauchte, bis es ihr gelang. Alles um sie herum schien sich zu drehen und ihre Panik verstärkte sich und drohte sie endgültig zu überwältigen.

Leonie zwang sich mit einer gewaltigen Willensanstrengung zur Ruhe, atmete tief ein und ballte die Hände zu Fäusten. Es gab keinen Grund, in Panik zu geraten. Sie hatte sich das alles nur eingebildet. Das war die einzig logische Erklärung. Falls es diese Maus überhaupt gegeben hatte, so hatte sie ganz bestimmt nicht die Stirn gerunzelt und ihr schon gar nicht zum Abschied zugelächelt! Nein - das Einzige hier, mit dem etwas nicht stimmte, das war sie selbst.

Seit sie diese unheimliche Bibliothek betreten hatte, schlug ihre Fantasie die wildesten Kapriolen, und Leonie begann sich allen Ernstes zu fragen, ob sie einen Grund hatte, sich Sorgen zu machen. Vielleicht war ihre Fantasie ja nicht einfach nur überreizt, sondern es lag tatsächlich an diesem Gebäude oder irgendetwas darin. Schließlich war Wohlgemut nicht müde geworden, immer und immer wieder zu betonen, wie alt viele der Bücher seien, die sie hier aufbewahrten. Wer konnte schon sagen, was für Bakterien, Keime, Sporen, Pilze oder Weiß-der-Geier-was seit Jahrhunderten in dem uralten Papier wuchsen und welche Wirkung sie auf die Gehirnchemie einer fünfzehnjährigen Freizeitpunkerin hatten?

Genau. Das war die Erklärung. Die einzig logische Erklärung.

Alles andere als überzeugt oder gar beruhigt ließ Leonie ihren Blick noch einmal durch den mit Schatten erfüllten Raum schweifen, dann wandte sie sich hastig um und trat wieder auf die Galerie hinaus.

Die Tür zu schließen erwies sich als weitaus schwieriger, als sie zu öffnen, denn es gab keinen Griff, an dem sie zufassen konnte. Sie zog vergebens an einem der Bretter, machte ein enttäuschtes Gesicht und besah sich die als Bücherregal getarnte Geheimtür dann etwas genauer. Die einzelnen Bretter waren nicht verdübelt, sondern lagen auf wuchtigen geschnitzten Knöpfen, die Tier- und Menschengesichter zeigten, und ein paar davon auch reine Fabelwesen. Leonie streckte die Hand aus, um eine der Schnitzereien zu ergreifen. Vielleicht konnte sie das Regal ja daran in seine ursprüngliche Position zurückziehen.

Als sie ihn fast berührt hatte, öffnete der hölzerne Kopf die Augen. Sein ohnehin schon nicht besonders hübsches Gesicht verzerrte sich zu einer abstoßend hasserfüllten Grimasse und Leonie erblickte ein Maul voller scharfer Zähne. »Hau ab!«, grollte eine tiefe, knarrende Stimme.

Das war eindeutig zu viel.

Leonie schrie auf, schlug beide Hände vor den Mund und prallte entsetzt zurück; allerdings nur einen halben Schritt weit, dann prallte sie gegen ein Hindernis, das ein erschrockenes Keuchen ausstieß und unter ihrem Gewicht zu wanken begann. Zusammen mit Wohlgemut, der vergebens versuchte, sie festzuhalten und gleichzeitig die eigene Balance zu wahren, stürzte sie rücklings zu Boden und knallte so unsanft mit dem Hinterkopf auf die Dielen, dass sie Sterne sah.

»Großer Gott, Kind!«, ächzte Wohlgemut. »Ist dir etwas passiert?«

Wäre Leonie nicht halb betäubt und mit der anderen Hälfte ihres Bewusstseins am Rande eines hysterischen Schreikrampfes gewesen, sie hätte über diese Frage wahrscheinlich laut gelacht. Wohlgemut lag unter ihr. Seine Kraft reichte ganz offensichtlich nicht, sich unter dem Gewicht ihres Körpers herauszuarbeiten, und zu allem Überfluss spürte sie, dass sich ihre Ellbogen schmerzhaft in seine Rippen bohrten und ihm fast den Atem nahmen. Und er fragte sie, ob ihr etwas passiert sei?

Hastig krabbelte sie von ihm hinunter, richtete sich auf Hände und Knie auf und fuhr herum, um das auf so bizarre Weise zum Leben erwachte Holzgesicht anzustarren. Wohlgemut ächzte und sagte etwas, das sie nicht verstand und das sie im Moment auch gar nicht verstehen wollte. Mit heftig klopfendem Herzen und am ganzen Leibe wie Espenlaub zitternd blickte sie das lebendig gewordene Holzgesicht an.