Bloß, dass es nicht mehr lebendig war.
Die Schnitzerei, die nicht wirklich einen Menschen zeigte, sondern nur etwas Menschenähnliches - einen Troll oder Gnom oder was auch immer sich der Künstler dabei gedacht haben mochte -, war wieder ganz genau das, was sie auch die ganze Zeit über gewesen war: eine weit über hundert Jahre alte kunstvolle Schnitzerei. Das Holz war im Laufe unzähliger Jahre ausgetrocknet und gerissen und eines der spitzen Ohren war abgebrochen. Die groteske Skulptur hatte bestimmt nicht die Augen geöffnet und sie angegrinst. Und sie hatte auch garantiert nichts zu ihr gesagt!
Leonies Herz schlug plötzlich bis zum Hals. Was war nur mit ihr los? War sie dabei, den Verstand zu verlieren? Sie stellte sich diese Frage ganz ernsthaft, und die mögliche Antwort, die sie sich selbst gab, gefiel ihr nicht. Ihre Hände zitterten immer heftiger und ihr Herz schlug in ihrer Brust, als wollte es jeden Moment zerspringen.
»Kind, was war denn nur los?« Wohlgemut rappelte sich umständlich hoch, streckte die Arme aus, um auch ihr aufzuhelfen, aber Leonie nahm die Bewegung gar nicht zur Kenntnis. Sie starrte immer noch die Schnitzerei an. Ihre Augen, und vor allem ihr Verstand, sagten ihr wieder, dass sie sich nicht bewegte und das auch nicht getan hatte, aber es war so unglaublich realistisch gewesen.
»Hast du dich verletzt?«, fragte Wohlgemut. »Um Gottes willen, was ist denn nur passiert?«
Leonie versuchte zu antworten, aber sie brachte im ersten Moment keinen Ton heraus. Nur mit äußerster Willenskraft gelang es ihr, ihren Blick von dem Dämonenkopf aus Holz loszureißen und sich zu Wohlgemut umzuwenden. Der Professor rang immer noch hilflos die Hände. Seine Brille war verbogen, was er aber gar nicht zu bemerken schien, und er war kreidebleich geworden und trat vor Aufregung unentwegt von einem Fuß auf den anderen. »Was hast du denn, Kind? Du hast geschrien!«
»Nichts«, antwortete Leonie. »Ich habe mich erschrocken, das ist alles.« Sie stand auf. »Ist Ihnen etwas passiert? Ich meine: Ich habe Sie doch nicht etwa verletzt, oder?«
Wohlgemut machte eine wegwerfende Handbewegung, und Leonie erkannte erst jetzt, dass auch er am ganzen Leib zitterte. »Das ist jetzt nicht von Belang«, erklärte er. Er sagte nicht: Nein. »Was war denn los? Du hast geschrien wie am Spieß.« Er wartete Leonies Antwort gar nicht ab, sondern trat mit einem raschen Schritt an ihr vorbei und maß die wieder geschlossene Geheimtür mit einem langen misstrauischen Blick. »Warst du etwa da drin?«
»Nicht absichtlich«, sagte Leonie rasch. »Ich habe mich nur dagegen gelehnt und...«
»Das macht überhaupt nichts«, unterbrach sie Wohlgemut - in einem Ton und mit einem Blick, der das genaue Gegenteil behauptete. »Dahinter ist nichts Geheimes. Wir bewahren die weniger wertvollen Bücher in diesen Kammern auf. Exemplare, die auf die Restaurierung warten, Dubletten und so weiter. Aber es ist nicht ungefährlich.« Sein Blick glitt wieder misstrauisch über das Regal. »In manchen dieser Alkoven liegt einfach nur Gerümpel. Man kann sich verletzten. Du hast dich erschreckt, sagst du? Wovor?«
Irgendetwas stimmte nicht, dachte Leonie. Wohlgemut sprach immer schneller. Bei den letzten Worten hatte er sich fast verhaspelt.
»Nein«, sagte sie ausweichend. Oder doch. Eine Maus, die mir zum Abschied zugelächelt hat, und eine Skulptur aus Holz, die mir fast die Finger abgebissen hätte. Sie konnte sich lebhaft vorstellen, wie Wohlgemut reagieren würde, wenn sie ihm das erzählte! Prima Idee! »Ein Schatten. Ich dachte, es wäre eine Spinne, aber ich muss mich wohl getäuscht haben.«
»Hast du Angst vor Spinnen?«, fragte Wohlgemut.
»Nicht mehr als andere auch.« Leonie seufzte tief. »Das war’s dann wohl mit dem Praktikum, nehme ich an?«
»Aber wie kommst du denn darauf?«, fragte Wohlgemut in einem Ton tiefster Überraschung. »Nur wegen dieses dummen, kleinen Unfalls? Ich bitte dich, Kind - so etwas kann doch jedem passieren.«
Leonie deutete auf die Geheimtür. »Aber ich...«
»Das macht überhaupt nichts«, fiel ihr Wohlgemut ins Wort. »Du solltest in Zukunft einfach nur aufpassen, wo du hingehst. Sobald du bei uns angefangen hast, führe ich dich noch einmal herum und zeige dir alles.«
»Oh«, machte Leonie. Sie hoffte, dass man ihr die Enttäuschung nicht allzu deutlich anmerkte. »Na dann...«
Sie brach mitten im Satz ab. Während sie mit Wohlgemut geredet hatte, hatte sie sich halb umgedreht und bemerkt, dass der Professor und sie nicht alleine auf der Galerie standen. Großmutter war Wohlgemut offensichtlich gefolgt, aber sie war in drei oder vier Schritten Abstand stehen geblieben und hatte bis jetzt kein Wort gesprochen. Leonie war nicht einmal sicher, ob sie die ganze turbulente Szene überhaupt mitbekommen hatte. Sie stand wie gelähmt da und starrte aus vor Entsetzen fast aus den Höhlen quellenden Augen auf den geschnitzten Dämonenkopf und ihr Gesicht hatte jedes bisschen Farbe verloren.
Ein folgenschwerer Streit
Der Rest des Tages verlief ziemlich ereignislos, worüber sich Leonie aber nun wirklich nicht beschweren wollte - ihr Bedarf an Abenteuern war nicht nur für diesen Tag, sondern für den Rest des Jahres gedeckt. Sie hatten sich relativ schnell von Wohlgemut verabschiedet, wobei sie sich wohlweislich gehütet hatte, Großmutter auf die Szene vor dem geheimen Alkoven anzusprechen.
Während sie mit dem Bus nach Hause fuhren, wagte sie aber dennoch einen behutsamen Vorstoß. »Wie alt ist Professor Wohlgemut eigentlich?«, fragte sie.
»Weit über neunzig«, antwortete Großmutter. »Sein genaues Alter verrät er nicht, aber es würde mich nicht wundern, wenn er auch noch seinen hundertsten Geburtstag als Leiter der Zentralbibliothek feiert.« Sie lachte leise. »Einige seiner Mitarbeiter behaupten, dass sie ihn wohl umbringen werden müssen, damit der Posten irgendwann neu besetzt werden kann.«
Leonie lachte ebenfalls, auch wenn sie den Scherz im Grunde nicht besonders komisch fand. Einigen anderen Fahrgästen schien es genauso zu ergehen wie ihr; ein junger Mann, der direkt hinter Großmutter saß, verzog zwar amüsiert die Lippen, aber zwei oder drei andere blickten eher böse.
»Und er ist auch noch völlig gesund, trotz seines hohen Alters?«
»Gesund wie ein Ochse«, bestätigte Großmutter. »Wenn alle Menschen so eine Konstitution hätten wie er, dann würden die Ärzte wohl reihenweise verhungern.«
Leonie ließ eine gewisse Zeit verstreichen, in der sie schweigend aus dem Fenster blickte. Der Berufsverkehr hatte bereits eingesetzt und der Bus quälte sich durch einen ständig dichter werdenden Strom aus bunt lackiertem Blech, Glas und Kunststoff. Es war der alltäglichste Anblick, den man sich nur vorstellen konnte. Und doch: Etwas war anders. Leonie konnte den Unterschied nicht in Worte fassen, denn er war nicht greifbar, aber irgendetwas zwischen den Dingen schien sich verändert zu haben: als wäre ihr etwas von dem Unheimlichen, das ihr in der Bibliothek widerfahren war, in die richtige Welt nach draußen gefolgt.
Wieder so ein sonderbarer Gedanke, der so gar nicht zu ihr passen wollte. Sie schüttelte ihn ärgerlich ab, drehte sich wieder zu Großmutter um und meinte: »Sag mal - es gibt doch da so eine komische Krankheit, bei der die Leute plötzlich anfangen, vollkommen grundlos andere zu beschimpfen.«
»Ja.« Großmutter nickte. »Sie ist sehr selten, aber es gibt sie tatsächlich. Ich habe einmal ein Buch darüber gelesen. Die armen Leute fangen plötzlich an, Beschimpfungen und die übelsten Beleidigungen auszustoßen, ohne dass sie selbst etwas dagegen tun können. Eine furchtbare Krankheit, wenn du mich fragst. Wer nicht weiß, dass die Leute krank sind, reagiert natürlich entsprechend wütend.« Sie blinzelte zu Leonie hoch. »Warum fragst du danach?«