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»Nur so«, antwortete Leonie hastig. »Ich habe von dieser Krankheit gehört, aber ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass es so etwas wirklich gibt.«

Großmutter schwieg zwar, aber sie sah ganz und gar nicht so aus, als würde sie diese Erklärung glauben, und Leonie zog es vor, das Thema nicht zu vertiefen. Der Rest des Tages verlief dann wirklich ereignislos - sieht man von einer unangenehmen Überraschung ab, mit der Leonie aber schon halbwegs gerechnet hatte: Kaum zu Hause angekommen, zog sie sich um, legte ihren gewohnten Schmuck an und trug schwarzen Nagellack und gleichfarbigen Lippenstift auf, aber als sie das Piercing wieder anbringen wollte, ging es nicht. Das einzige Ergebnis ihrer Bemühungen waren heftige Schmerzen und die Erkenntnis, dass sie das restliche Taschengeld dieser Woche für einen Besuch im Piercing-Studio einplanen konnte. Das war dann aber auch schon alles. Zumindest bis zum Abend.

Das Abendessen verlief gewohnt harmonisch, doch zu Leonies Erstaunen - und Erleichterung - verloren weder ihre Eltern noch Großmutter ein einziges Wort über den Besuch in der Zentralbibliothek. Sie ging früh schlafen.

Und fand sich nahezu übergangslos in einem bizarren Albtraum wieder.

Leonie wusste die ganze Zeit über, dass es sich nur um einen Albtraum handelte, aber dieses Wissen, und das war das Unheimliche, änderte nichts an der furchtbaren Angst, die sie ebenfalls die ganze Zeit über hatte.

Es fing damit an, dass sie sich urplötzlich im Wohnzimmer wiederfand, wo ihre Eltern und Großmutter heftig miteinander stritten. Sie schrien sich lautstark an. Leonie konnte nicht verstehen, worum es ging, denn sie redeten in einer Sprache, die sie noch nie zuvor gehört hatte. Aber dass es sich um einen Streit handelte, stand außer Frage, denn alle drei bewarfen sich ununterbrochen mit Büchern. Dann war sie plötzlich wieder in der Geheimkammer oben auf der Galerie, und auch die Maus war wieder da, nur dass Leonie jetzt gerade fünf Zentimeter groß war und die Maus sie überragte wie ein zum Leben erwachter Berg. Leonie wollte weglaufen, aber die Maus streckte blitzschnell eine Pfote aus, hielt sie fest und hob sie in die Höhe, um sie mit einer Nase zu beschnüffeln, die größer war als ihr ganzes Gesicht.

»Wenn ich du wäre, dann würde ich jetzt die Beine in die Hand nehmen und rennen, was das Zeug hält«, sagte die Maus, dann grinste sie und schüttelte den Kopf. »Obwohl das ja eigentlich Unsinn ist, wenn ich’s mir richtig überlege. Ich meine: Wenn man die eigenen Beine in der Hand hält, dann kann man ja eigentlich nicht mehr rennen, oder?«

Wie aus dem Nichts erschien Leonies Großmutter hinter der Maus. »Lass gefälligst meine Enkelin in Ruhe«, sagte sie und warf mit einem Buch nach der Maus. Noch im Flug verwandelte es sich in eine Mausefalle, aber bevor die Falle zuschnappen konnte, wechselte der Schauplatz erneut und Leonie fand sich, auf Händen und Knien hockend, in einem scheinbar endlosen gewölbten Gang wieder, dessen Wände und Decken aus dicht an dicht gestapelten Büchern bestanden. Großmutter und ihre Eltern waren nicht da, aber sie konnte sie wieder hören. Sie stritten immer noch in dieser sonderbaren unverständlichen Sprache und ihre Auseinandersetzung schien sogar noch heftiger geworden zu sein. So weit entfernt, dass sie praktisch nur Schemen erkannte, schienen Bücher durch die Luft zu fliegen, und ab und zu hörte sie einen klatschenden Laut.

Dann wachte sie auf. Gott sei Dank.

Leonie blieb minutenlang mit geschlossenen Augen liegen und lauschte in sich hinein. Kein Zweifeclass="underline" Sie hatte einen Albtraum gehabt. Sie war in Schweiß gebadet und ihr Herz jagte wie nach einem Hundert-Meter-Sprint. Der Traum kam ihr mit jeder Sekunde, die sie darüber nachdachte, absurder vor, aber sie spürte noch immer den bitteren Nachgeschmack der abgrundtiefen Angst, mit der er sie erfüllt hatte. Und vielleicht noch unheimlicher war das Gefühl, dass dieser Traum eine bestimmte Bedeutung gehabt hatte. Als wollte er ihr etwas sagen. Aber was? Dass sie von dieser sonderbaren Maus mit ihrem noch viel sonderbareren Verhalten geträumt hatte, das konnte sie ja noch halbwegs verstehen - aber was sollte der Streit zwischen ihren Eltern und Großmutter? Solange sich Leonie erinnern konnte, hatten sie sich nie gestritten. Allein der Gedanke war schon lächerlich! Trotzdem bewies der Traum eine erstaunliche Hartnäckigkeit. Sie glaubte selbst jetzt noch, die aufgeregten Stimmen der drei Erwachsenen zu hören, die lauthals miteinander stritten.

Leonie setzte sich auf und tastete blind nach der Nachttischlampe neben ihrem Bett. Sie unterdrückte ein Seufzen, als das Licht anging und sie den Wecker ablas. Es war nach eins. Und das Geräusch streitender Stimmen, das aus dem Erdgeschoss heraufdrang, war immer noch da.

Leonie starrte die geschlossene Zimmertür einen Moment lang vollkommen fassungslos an und schwang ihre Beine aus dem Bett. Auf nackten Füßen ging sie zur Tür, lauschte noch einmal einen Moment und drückte dann die Klinke herunter. Im Flur brannte kein Licht, aber von unten drang ein matter gelber Schein herauf und die Stimmen waren nun deutlicher zu hören. So schwer es Leonie auch immer noch fiel, es zu glauben: Großmutter und ihre Eltern stritten tatsächlich!

Sie redeten nicht in einer unverständlichen Traumsprache, doch es gelang Leonie dennoch nicht, zu verstehen, worum es ging. Sie verstand nur Wortfetzen. Aber die Tonlage ließ nicht den geringsten Zweifel aufkommen: Was noch nie vorgekommen war, geschah jetzt, nur eine Etage unter ihr.

Leonie blieb sekundenlang reglos an der Tür stehen und fragte sich verzweifelt, was sie tun sollte. Sie hätte ins Zimmer zurückgehen und sich wieder ins Bett legen können - sie hatte das Gefühl, dass sie es sogar musste. Was dort unten geschah, ging sie nichts an, und sie hatte schon gar kein Recht, hier zu stehen und zu lauschen - aber die bloße Erkenntnis, dass Großmutter und ihre Eltern nicht nur miteinander stritten, sondern sich regelrecht anschrien, schockierte sie zutiefst. Ihre Großmutter war der sanfteste Mensch, den sie kannte, und auch ihre Eltern legten normalerweise großen Wert auf einen gepflegten Umgangston.

Und dann hörte sie ganz deutlich ihren Namen.

Leonie riss ungläubig die Augen auf. Ihr Name fiel erneut - sie konnte nicht sagen, in welchem Zusammenhang, aber es war ganz eindeutig ihr Name! - und nun gab es kein Halten mehr. Rasch schloss sie die Tür hinter sich, schlich auf nackten Füßen die Treppe hinab und konzentrierte sich so angestrengt auf die Worte, die aus dem Wohnzimmer drangen, wie sie nur konnte.

Auf den letzten Stufen wurde sie immer langsamer, und als sie sich dem Wohnzimmer näherte, blieb sie schließlich ganz stehen. Die Tür stand offen, und in dem großen Spiegel, der an der gegenüberliegenden Wand hing, konnte sie ihre Eltern und Großmutter beobachten, ohne selbst sofort gesehen zu werden. Mit angehaltenem Atem lauschte sie.

»Niemals!«, sagte ihre Mutter gerade. Sie schlug zwar nicht mit der Faust auf den Tisch, so wenig wie Großmutter und sie sich gegenseitig mit Büchern bewarfen, aber Leonie wäre nicht einmal mehr erstaunt gewesen, hätte sie es getan. »Das lasse ich nicht zu!«

»Aber Anna!«, antwortete Großmutter beschwörend. »So glaub mir doch! Ich liebe Leonie ebenso sehr wie du. Ich würde niemals zulassen, dass ihr etwas zustößt. Aber ich weiß auch, was ich gesehen habe. Du musst mir glauben, Anna! Sie hat die Gabe!«

Gabe?, dachte Leonie. Was für eine Gabe?

»Humbug!«, widersprach Mutter. »Nein!« Sie schrie es und schlug nun wirklich - wenn auch nur mit der flachen Hand, nicht mit der Faust - auf den Tisch. »Ich will von diesem Unsinn nichts mehr hören!«

»Unsinn?« Großmutter sog hörbar die Luft zwischen den Zähnen ein. »Aber Kind, was redest du nur? Du weißt doch ganz genau, was...«

»Nein!«, unterbrach sie Leonies Mutter, nun nicht mehr schreiend, aber noch immer in scharfem Ton. »Nichts weiß ich. Ich weiß nur, dass ich mein ganzes Leben lang diesen Unsinn gehört habe - und dass ich es bedaure wie nichts anderes. Die Gabe!« Sie beugte sich erregt vor und in ihren Augen erschien ein Ausdruck, der selbst Leonie schaudern ließ, obwohl sie ihren Blick nur über den Spiegel hinweg auffing. »Es ist genug! Ich habe mein ganzes Leben in den Dienst dieser so genannten Gabe gestellt. Ich habe auf alles verzichtet. Ich hatte keine Jugend, keine Kindheit, kein Leben! Ich habe fast fünfzig Jahre lang in diesen Mauern verbracht, eingesperrt mit nichts anderem als deinen Büchern!«