»Aber... aber ich dachte, du liebst Bücher«, murmelte Großmutter. Sie wirkte erschüttert.
»Natürlich tue ich das«, antwortete Mutter. »Ich mache dir keinen Vorwurf. Bitte versteh mich nicht falsch. Ich weiß, du wolltest immer nur das Beste für mich, und natürlich auch, dass du Leonie niemals bewusst in irgendeine Gefahr bringen würdest. Du glaubst an das, was du sagst und tust, und handelst nur in bester Absicht. Aber ich weiß auch, welchen Preis ich bezahlt habe, und ich werde nicht zulassen, dass meine Tochter ihn ebenfalls zahlen muss.«
»Welchen... welchen Preis denn?«, flüsterte Großmutter erschüttert.
»Mein Leben«, antwortete Leonies Mutter. »Ich kenne nichts anderes als dieses Haus. Früher, wenn die anderen Kinder gespielt haben, da war ich hier, um dir mit deinen Büchern zu helfen. Als die anderen jungen Mädchen mit ihren Freunden ausgegangen sind, da habe ich die Bibliothek im Keller sortiert. Als die jungen Frauen mit ihren Familien in Urlaub gefahren sind, da habe ich dir geholfen, irgendwelche dubiosen Handschriften zu finden. Alles, was ich je in meinem Leben wirklich gehabt habe, alles, was meinem Leben einen Sinn gibt, ist Leonie. Ich werde nicht zulassen, dass sie dasselbe durchmachen muss wie ich. Sie wird nicht die kostbarsten Jahre ihres Lebens opfern, um auf einen Moment zu warten, der niemals kommt. Es gibt diese Gabe nicht, Mutter. Ich habe fünfzig Jahre lang darauf gewartet, dass sie sich in mir regt, aber sie existiert nicht.«
»Manchmal überspringt sie eine Generation«, murmelte Großmutter.
»Es gibt sie nicht«, sagte ihre Tochter, sehr leise und sehr bitter. »Sieh es endlich ein. Du und ich, wir haben unser beider Leben einer Sache geopfert, die niemals wirklich existiert hat. Ich werfe es dir nicht vor, aber ich werde nicht zulassen, dass Leonie den gleichen Fehler begeht wie ich.«
»Aber ich habe es gesehen«, flehte Großmutter.
»Du hast gesehen, was du sehen wolltest«, antwortete Leonies Mutter leise. »Ich werde nicht zulassen, dass Leonies Leben so verläuft wie meines. Wenn es sein muss, nehme ich meine Tochter und gehe fort.«
Für ein paar Sekunden kehrte vollkommenes Schweigen ein, dann senkte Großmutter den Blick und flüsterte: »Das wird nicht nötig sein.« Ganz langsam stand sie auf, trat vom Tisch zurück, drehte sich um und ging auf die Tür zu. Leonie sah im Spiegel, wie ihre Mutter den Arm ausstreckte, wie um Großmutter zurückzuhalten, aber dann ließ sie die Hand wieder sinken und drehte sich mit einem Ruck weg, und Großmutter setzte ihren Weg ungehindert fort und verließ das Wohnzimmer.
Leonie wich im letzten Moment zwei Schritte hoch auf die Treppe zurück, sodass sie sich in vollkommener Dunkelheit befand. Ihre Großmutter streifte sie fast im Vorbeigehen, ohne sie auch nur zu bemerken.
Leonies erster Impuls war, ihr nachzueilen, um sie zu fragen, was das alles zu bedeuten hätte, aber stattdessen stand sie einfach weiter wie gelähmt da, bis Großmutter das Ende des Flures erreichte und in dem Zimmer verschwunden war, das sie bewohnte, seit Leonies Eltern das Haus übernommen hatten. Erst als die Tür mit einem hörbaren Klicken ins Schloss fiel, erwachte Leonie wieder aus ihrer Erstarrung und plötzlich überschlugen sich ihre Gedanken. Was ging hier vor? Was bedeutete diese unglaubliche Szene, deren Zeugin sie gerade geworden war? Und was hatte Großmutter gemeint, als sie von dieser ominösen Gabe gesprochen hatte?
Sie machte wieder einen Schritt die Treppe hinab, um zu ihren Eltern zu gehen, doch plötzlich fehlte ihr auch dazu der Mut. Für Leonie war innerhalb weniger Minuten eine Welt zusammengebrochen. Noch bevor sie ihr Zimmer verlassen hatte, war sie der festen Überzeugung gewesen, in einer der glücklichsten Familien zu leben, die es gab, und jetzt...
Ihre Augen füllten sich mit brennender Hitze. Sie hatte die Hände so fest zu Fäusten geballt, dass sich ihre Fingernägel in die Handflächen gruben, ohne es zu bemerken, und ihre Arme und Knie begannen heftig zu zittern. Hinter ihrer Stirn tobte ein wahrer Sturm von Gefühlen. Vielleicht geschieht das ja alles nicht wirklich, dachte sie hysterisch. Vielleicht schlief sie ja immer noch und erlebte nur eine besonders perfide Fortsetzung des Albtraumes von gerade eben. Es war doch einfach nicht möglich, dass eine so harmonische Familie innerhalb eines einzigen Augenblickes zu nichts anderem als einer gewaltigen Lüge zerbrach!
Und durch den Schleier aus Tränen vor ihren Augen hielt sie den Blick weiter fest auf den Spiegel gerichtet. Sie konnte sehen, dass ihr Vater aufgestanden und um den Tisch herumgeeilt war, um seine Frau tröstend in die Arme zu schließen. Sie konnte nicht verstehen, was die beiden sprachen, aber der harte Ausdruck in den Augen ihrer Mutter blieb, auch wenn jetzt Tränen ihr Gesicht benetzten. Und endlich hielt es Leonie nicht mehr aus. Sie machte auf der Stelle kehrt und ging in ihr Zimmer zurück. Sie warf sich lang ausgestreckt auf das Bett, vergrub ihr Gesicht ins Kissen und weinte sich in den Schlaf.
Auch diesmal fand sie sich sofort in einem düsteren Albtraum wieder, der aber vollkommen anders war als der erste und aus dem sie genau wie beim ersten Mal schon nach kurzer Zeit schweißgebadet und mit klopfendem Herzen wieder erwachte. Für einen ganz kurzen Moment klammerte sie sich an die vollkommen absurde Hoffnung, dass auch der furchtbare Streit zwischen Großmutter und ihren Eltern nur eine weitere Facette ihres Albtraumes gewesen war, und die Welt wieder in Ordnung sein würde, wenn sie am nächsten Morgen aufstand und zum Frühstück nach unten ging. Aber schon bevor sie die Augen aufschlug, wusste sie, dass dem nicht so war. In gewissem Sinne war die heftige Szene sogar der schlimmste aller Albträume; aber er gehörte zu jener Sorte, aus der es kein Erwachen gab.
Außerdem spürte sie, dass sie nicht mehr allein im Zimmer war.
Leonie hatte das Nachtlicht brennen lassen, als sie sich aufs Bett geworfen hatte, doch nun war es vollkommen dunkel. Es war auch vollkommen still, aber Leonie spürte dennoch die Anwesenheit einer weiteren Person, die dicht neben ihrem Bett stand und schweigend auf sie herabsah. Da ihre Familie das Haus allein bewohnte, war die Auswahl derer, die da so heimlich in ihr Zimmer schleichen konnten, um sie im Schlaf zu beobachten, nicht sehr groß: Es kamen nur ihre Eltern und natürlich Großmutter in Frage. Trotzdem blieb Leonie vollkommen reglos und mit nahezu angehaltenem Atem liegen, statt sich einfach umzudrehen und die Augen aufzuschlagen. Plötzlich hatte sie Angst; eine Angst, die binnen Sekunden so stark wurde, dass sie all ihre Kraft aufbieten musste, um weiter reglos dazuliegen und nicht vor Furcht zu wimmern. Es gab keinen Grund, ängstlich zu sein, nicht einmal einen unlogischen, geschweige denn einen wirklichen. Dennoch war sie da, wurde mit jedem schweren Herzschlag, der wie ein Paukenhieb in Leonies Ohren dröhnte, schlimmer.
Irgendetwas raschelte, dann konnte sie spüren, wie der nächtliche Besucher näher kam und sich lautlos vorbeugte. Und einen Sekundenbruchteil, bevor eine knochige, schmale Hand ihr Haar berührte und es mit einem sachten elektrischen Knistern streichelte und sie ihr Kölnischwasser roch, wusste Leonie, dass es Großmutter war. Sie hätte erleichtert sein sollen. Spätestens in diesem Moment hätte sie aufhören können, mit zusammengekniffenen Augen dazuliegen und die Schlafende zu spielen, aber Leonie war immer noch wie gelähmt. Gerade hatte sie sich nicht rühren wollen; jetzt konnte sie es nicht.