Conn widersprach nicht. Zwar behagte es ihm nicht, dass Remy seine Haut für etwas riskierte, das ihn nichts anging, aber er wusste auch, dass es nicht in seiner Macht lag, dem Hünen etwas vorzuschreiben. Im Laufschritt eilten sie durch die Südstadt, so rasch ihre Rüstungen es zuließen. An einer Straßenkreuzung trafen sie auf Kämpfer der Bürgerwehr. Einen von ihnen streckte Conn nieder, indem er ihm eine tiefe Schnittwunde beibrachte, die übrigen ergriffen die Flucht.
»Die Juden – wo?«, herrschte Conn seinen am Boden liegenden Gegner an, der keuchend die Hand auf seinen blutenden Oberarm presste. Es waren die einzigen Worte, die er auf Aramäisch beherrschte, und auch das nur leidlich. Berengar hatte sie ihm widerstrebend beigebracht, nachdem Conn ihn darum gebeten hatte.
Der Antiochier schaute furchtsam zu ihm auf, dann deutete er die Querstraße hinab. Conn nickte ihm zu, dann eilten Remy und er in die bezeichnete Richtung. Unterwegs konnten sie von links Kampflärm und lautes Geschrei hören – offenbar war das Sankt-Georgs-Tor schon gefallen, und die Kreuzfahrer befanden sich weiter auf dem Vormarsch. Nicht mehr lange, und sie würden auch das jüdische Viertel erreichen.
Conn beschleunigte seine Schritte, ebenso wie Remy, und endlich erreichten sie die Häuser der jüdischen Gemeinde. Eine breite Hauptstraße führte zu einem Marktplatz, auf dessen gegenüberliegender Seite die Synagoge stand. Der Platz war menschenleer, vermutlich hatten sich die Einwohner in ihren Häusern verschanzt und harrten furchtsam der Dinge, die über sie hereinbrechen würden. Sich um seine Achse drehend, überlegte Conn, wie er Chaya am schnellsten finden würde, als ihnen plötzlich lautes Geschrei entgegendrang.
Die beiden Kreuzfahrer fuhren herum, die Schilde abwehrbereit erhoben, um sich einer bunt zusammengewürfelten Gruppe von zehn oder zwölf Kämpfern gegenüberzusehen, die kaum zu wissen schienen, wie sie die rostigen Klingen in ihren Händen zu führen hatten. Verbeulte Helme saßen auf ihren Häuptern, ihre Harnische waren uralt. Die Entschlossenheit in ihren zumeist jungenhaften Gesichtern jedoch war unerbittlich.
Remy stieß ein verächtliches Grunzen aus und stellte sich den Angreifern kampfbereit entgegen. Ernst zu nehmende Gegner stellten sie sicher nicht dar, einzig ihre Überzahl konnte gefährlich werden. Conn postierte sich so, dass er den Rücken des Freundes schirmte, und erwartete gleichfalls den Angriff. Gefasst blickte er den heranstürmenden Kämpfern entgegen – und erkannte einen von ihnen.
»Caleb!«, rief er laut. »Halte ein, Caleb! Ich bin es, Conwulf!«
Sein Ruf wurde von den steinernen Fassaden zurückgeworden und verstärkt, sodass er das Gebrüll der Angreifer übertönte. Verblüfft blieb derjenige von ihnen, der an der Spitze stürmte und der Anführer zu sein schien, stehen. Unglaube sprach aus seinen geweiteten Augen.
»Du!«, stieß er hervor. Seine Stimme bebte vor Kampfeslust.
»Caleb«, sagte Conn noch einmal, den Schild halb erhoben. Die anderen Kämpfer hatten zwar ebenfalls innegehalten, doch ihren Blicken war anzusehen, dass sie es nicht erwarten konnten, sich auf die Kreuzfahrer zu stürzen.
»Endlich begegnen wir uns«, rief Caleb in seinem akzentbeladenen Französisch, während er die schartige Klinge hob. »Diesmal liegen alle Vorteile bei mir. Jetzt wirst du sterben, Christenhund!«
Remy blies spöttisch durch die Nase. Weder Calebs Drohgebärden noch die Überzahl seiner Leute beeindruckten den Normannen nachhaltig.
»Caleb, hör mir zu«, suchte Conn den Juden zu beschwichtigen, der offenbar entschlossen war, seinen Teil zur Verteidigung der Stadt beizutragen. »Ich muss zu Chaya! Jetzt gleich!«
»Nur über meine Leiche«, gab der andere kopfschüttelnd bekannt und trat noch einen Schritt vor.
»Ich will nicht mit dir kämpfen, heute so wenig wie in jener Nacht im Lager.«
»Das wundert mich nicht. Dein Mut mag ausreichen, um eine unschuldige junge Frau zu schwängern, aber nicht, um dich wie ein Mann zum Kampf zu stellen!«
»Ich will zu Chaya«, beharrte Conn, die Beleidigung geflissentlich überhörend. »Alles andere ist mir gleichgültig.«
»Ich sagte es dir schon einmal – sie will dich nicht sehen.«
»Verdammt, Caleb.« Von jenseits des Judenviertels brandete lautes Gebrüll heran, Hufschlag auf steinernem Pflaster war zu hören. »Es geht längst nicht mehr um das, was wir tun wollen! Chaya muss in Sicherheit gebracht werden, jetzt gleich!«
»Du wagst es?«, fuhr Caleb ihn mit zorngeweiteten Augen an. »Du wagst es, dich als ihr Retter aufzuspielen? Ausgerechnet du?«
»Ich bin nicht stolz auf das, was ich getan habe. Aber ich will, dass Chaya lebt. Du nicht auch?«
Caleb spuckte verächtlich aus. Aber man konnte sehen, dass Conns Worte nicht ungehört verhallten.
»Ihr alle solltet fliehen«, wandte sich Conn an Calebs Leute. »Werft eure Waffen weg und versteckt euch, denn die Männer, die auf dem Weg hierher sind, kennen kein Erbarmen. Ihr werdet sie nicht aufhalten können und einen sinnlosen Tod sterben.«
Er war nicht sicher, ob die jungen Männer aus Antiochia verstanden, was er sagte, aber der heisere Klang eines Kriegshorns, das jenseits der Häuser erklang, sprach eine allgemein verständliche Sprache. Die Entschlossenheit in den Gesichtern bröckelte. Einige der Bewaffneten wollten die Flucht ergreifen, aber Caleb ließ sie nicht.
»In einer aussichtslosen Lage aufzugeben ist kein Zeichen mangelnden Mutes, sondern von Besonnenheit«, sagte Conn. Waffengeklirr war zu vernehmen, begleitet von fürchterlichen Schreien. Daraufhin ließen die ersten von Calebs Leuten die Waffen fallen und wandten sich zur Flucht, auch ihr Anführer konnte sie jetzt nicht mehr zurückhalten. Einer nach dem anderen rannte davon, bis Caleb zuletzt allein vor Conn und Remy stand.
»Nun?«, fragte Conn ungerührt. »Muss ich dich mit der Klinge an der Kehle dazu zwingen, mich zu Chaya zu führen?«
Der Jude stand vor ihm, das alte Schwert in der Hand, und schien tatsächlich zu überlegen, ob er kämpfen oder sich Conns Willen fügen sollte. Schließlich obsiegte sein Verstand. Er ließ die Waffe sinken, wandte sich verdrießlich ab und huschte davon. Conn und Remy folgten ihm, und das keinen Augenblick zu früh. Denn kaum waren sie in eine Seitengasse abgebogen, langte eine Abteilung schwer gepanzerter Flamen auf dem Marktplatz an, der unter dem Hufschlag ihrer Pferde und dem heiseren Kriegsruf erzitterte.
»Deus lo vult« – Gott will es.
Conn wusste nicht, wohin Caleb sie führte.
Die Gassen des jüdischen Viertels waren so eng und verwinkelt, dass er schon nach kurzer Zeit die Orientierung verloren hatte, anders als Caleb, der die Gegend offenbar wie seinen Rock kannte.
Durch einen Säulengang gelangten sie auf eine schmale Straße und von dort zum Hintereingang eines Hauses. Caleb klopfte an, wartete dann einen Augenblick und klopfte nochmals. Daraufhin wurde die Tür entriegelt und einen Spaltbreit geöffnet. Caleb flüsterte einige Worte, worauf die Tür ganz aufschwang und er eintreten durfte.
Conn folgte ihm auf dem Fuß, ebenso wie Remy, der sich bücken musste, um den niedrigen Sturz zu passieren. Ein ältlich aussehender Mann, wohl der Hausverwalter, erwartete sie auf der anderen Seite, der die voll gerüsteten Kämpfer entsetzt anstarrte. Conn schob daraufhin das Schwert in die Scheide zurück und forderte Remy auf, es ihm gleichzutun. Der Normanne gehorchte, machte aber keine Anstalten, die Gesichtsschürze zu lösen.
Caleb forderte sie auf, mit ihm zu kommen. Durch einen Innenhof, dessen sprudelnder Brunnen ein seltsam unpassendes Bild des Friedens bot, ging es zu einer Treppe, die in den ersten Stock des Hauses führte. Dort befand sich eine Tür, an die Caleb wiederum klopfte. Eine fragende Stimme erklang, die Tür wurde geöffnet – und Conn stand Chaya gegenüber, zum ersten Mal nach jener gemeinsamen Nacht.