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»Gut so, Chaya«, sprach er auf sie ein. »Es kann nicht mehr lange dauern. Nur noch ein wenig Geduld.«

Schweiß stand Chaya auf der Stirn, ihr Atem ging so heftig, dass ihr schwindlig wurde. Sie wartete auf die nächste Wehe, während sie sich zugleich davor fürchtete. Aber ihre eiserne Disziplin, die sie von einem Ende der Welt zum anderen geführt und sie auch in den dunkelsten Stunden nie den Mut hatte verlieren lassen, hielt sie weiter aufrecht.

Die Wehe kam – und erneut presste Chaya mit aller Kraft, um dem Kind, das in ihr herangereift war, den Ausgang ins Leben zu ermöglichen. Sie spürte, dass Blut austrat, und Caleb schrie auf. »Der Kopf ist zu sehen, Chaya! Nur noch einmal.«

Der Schmerz ließ ein wenig nach, und Chaya versuchte, sich für einen Moment zu entspannen, um noch einmal ihre ganze Kraft zusammenzunehmen.

Ihr Atem stockte, ihr Pulsschlag raste, und zusammen mit den schwarzen Flecken, die vor ihren Augen auf und ab tanzten, sah sie wirre Bilder von Menschen und Ereignissen, die ihr begegnet und widerfahren waren: Conwulf, ihr Vater, Mordechai und ihr Onkel Ezra, selbst das Buch von Ascalon – sie alle tauchten für einen kurzen Augenblick vor ihr auf, aber auf eine fast erschreckende Weise waren sie ihr gleichgültig. Alles, was zählte, war das Kind in ihrem Körper, dem sie das Leben schenken musste.

Jetzt!

Chaya presste und spürte Widerstand, hatte das Gefühl, ihre untere Leibeshälfte würde bersten, dennoch gab sie nicht nach. Wiederum entfuhr ihr ein lauter Schrei – in den sich im nächsten Moment das helle Kreischen eines neugeborenen Kindes mischte.

Gleichzeitig ließ der Schmerz nach, und Chaya hatte das Gefühl, dass ihr irdisches Dasein in diesem Augenblick seine Erfüllung fand. Ihr Körper entspannte sich, und sie sank in ein wärmendes Bett aus zarten, wohltuenden Empfindungen – wobei sie nicht zu sagen vermochte, ob es die Erleichterung war, die sie solche Gefühle hegen ließ, oder der Blutverlust.

»Ist es …?« Sie richtete sich ein wenig auf und versuchte, einen Blick auf das schreiende, blutige Bündel zu erhaschen, das Caleb im Arm hielt, während er sein schartiges Schwert dazu benutzte, die Nabelschnur zu durchschneiden.

»Scheint alles in Ordnung zu sein«, stieß er lachend hervor, offenkundig nicht weniger erleichtert als Chaya selbst. »Es ist ein Junge, Chaya. Ein Junge.«

Er reichte ihr das winzige Wesen, und sie nahm es entgegen, Tränen der Erleichterung und der Freude in den Augen. Sanft legte sie das Kind an ihre Brust. Sie fühlte sich innerlich leer und doch so erfüllt wie nie zuvor, hatte das Gefühl, eins zu sein mit der Schöpfung, zu der sie ihren Teil nun beigetragen hatte.

Mit Liebe und Fürsorge betrachtete sie den Jungen: seine zierliche, zerbrechlich wirkende Gestalt, die winzigen Finger, das kleine Gesicht und die blauen Augen, die zaghaft in die Welt blinzelten.

Blaue Augen.

»Caleb«, hauchte sie leise. »Willst du mir eines versprechen?«

»Was immer du verlangst.« Ihr Cousin, der erschöpft am Fuß der Treppe kauerte, nickte.

Chaya schluckte hart. »Verrate niemandem, wer der Vater des Kindes ist. Willst du das für mich tun?«

Caleb zögerte keinen Augenblick. »Ich werde schweigen. Ich werde dich zur Frau nehmen und das Kind aufziehen, als wäre es mein eigen Fleisch und Blut.«

1.

Antiochia

5. Juni 1098

»Nun?«

Baldric warf dem soeben eingetretenen Bertrand einen fragenden Blick zu. Sein Auge war dunkel gerändert, seine Stimme rau. Bertrand löste den Kinnriemen seines Helmes, nahm ihn ab und setzte sich an die Feuerstelle, die die Mitte des Raumes einnahm. Dabei seufzte er und schüttelte langsam den Kopf.

»Nichts«, sagte er leise. »Keine Spur von dem Jungen. Ebenso wenig wie von Remy.«

Baldric erwiderte nichts. Seine Fäuste jedoch ballten sich so sehr, dass das Weiße an den Knöcheln vortrat. Unruhig ging er in der Kammer auf und ab, die seinen Kameraden und ihm als Wohnstatt diente, seit Antiochia gefallen war. Den in Massen eingedrungenen Kreuzfahrern hatten die Verteidiger der Stadt nichts mehr entgegenzusetzen gehabt. Nachdem sie anfänglich noch Widerstand leisteten, hatten sie schließlich die Flucht ergriffen und sich in der Zitadelle verschanzt, die sich nach wie vor behauptete; der Rest der Stadt jedoch befand sich in den Händen der Streiter Christi, auch der Norden, wo die Normannen unter Herzog Robert gefochten und schließlich auch Quartier bezogen hatten.

Was mit den einstigen Besitzern des Hauses geschehen war, das er und die Seinen nun bewohnten, konnte Baldric nur vermuten. Vielleicht waren sie beim Kampf um die Stadt gefallen, vielleicht waren sie geflüchtet. Oder sie waren einfach nur verschwunden, wie so viele in diesen Tagen.

»Ich bin in der Südstadt gewesen«, berichtete Bertrand niedergeschlagen. »Ich habe aber nichts gefunden. Nicht einen einzigen Hinweis.«

»Aber Conn ist dort gewesen. Ebenso wie Remy. Jemand muss die beiden gesehen haben.«

»Das hat man – allerdings nur zu Beginn des Kampfes. Ich habe mit jemandem gesprochen, der ebenfalls zu Bohemunds Abteilung gehörte. Demnach waren Conn und Remy bei den Ersten, die den Turm bestiegen, und sie waren auch dabei, als ein Tor geöffnet wurde, um weitere Kämpfer einzulassen. Danach jedoch verliert sich ihre Spur.«

Baldric war stehen geblieben, stützte sich an einen hölzernen Pfeiler, der die niedrige Decke trug. »Dieser junge Narr. Was hat er nur getan?«

»Ich denke, wir wissen, was geschehen ist«, sagte Bertrand leise.

»Konnte er nicht wenigstens diesmal auf mich hören?« Baldric holte tief Luft. »Hast du auch im jüdischen Viertel gesucht?«

»Natürlich, aber ich habe dort niemanden angetroffen. Die Häuser sind verlassen, die Menschen haben sich versteckt aus Furcht.«

Baldric nickte. »Wer möchte es ihnen verdenken?«, fragte er in Erinnerung an all die entsetzten Schreie, die in der Nacht der Eroberung die Gassen erfüllt hatten und die ihm noch immer in den Ohren lagen. Bertrand schickte ihm einen bedauernden Blick. Die Unbekümmertheit des Normannen war aus seinen Zügen verschwunden und der Sorge um die Freunde gewichen – und ehrlichem Mitgefühl für Baldric. »Mein Freund, wenn Conn und Remy tatsächlich nach dem Mädchen gesucht haben und in jener Nacht im Judenviertel waren, dann könnte es leicht sein, dass …«

»Nein«, fiel Baldric ihm barsch ins Wort. »Conn ist noch am Leben. Wir müssen weiter nach ihm suchen.«

»Aber wo? In dieser Stadt nach einer einzelnen Person zu suchen ist so, als suchte man nach einer Nadel im Heuhaufen. Nicht nur, dass die Gassen so weit verzweigt und verwinkelt sind wie die Gänge in einem Maulwurfsbau, die meisten Viertel sind noch immer übersät von Erschlagenen, die karrenweise zu den Friedhöfen geschafft werden. Die meisten von ihnen sind nackt, weil sie ihrer Rüstung und ihrer Kleider beraubt wurden, und man kennt Freund und Feind nicht einmal mehr auseinander – gerade so, als hätte der Allmächtige in seiner Güte beschlossen, die Leugner der Wahrheit im Tod den Gläubigen gleichzumachen.«

Baldric nickte nachdenklich. Er wusste um die katastrophalen Zustände, die die Suche zusätzlich erschwerten, aber er war dennoch nicht gewillt, schon aufzugeben. »Conn ist nicht tot«, beharrte er. »Wir müssen ihn nur finden.«

»Baldric …«

»Er lebt«, wiederholte Baldric mit einer Endgültigkeit, die keinen Widerspruch duldete. Bertrand erwiderte darauf nichts mehr und starrte in die Flammen.

Eine lange Pause entstand, in der keiner der beiden ein Wort sagte. Schließlich löste sich Baldric von der Säule, kam schleppenden Schrittes ans Feuer und setzte sich zu seinem Freund.