»Falls du recht hast, Bertrand«, flüsterte er, während das eine Auge blicklos in die Flammen starrte, »wird jemand dafür bezahlen. Das schwöre ich, so wahr mir Gott …«
Er hatte den grimmigen Eid noch nicht zu Ende gesprochen, als die Tür aufflog. Kein anderer als Berengar stand auf der Schwelle. Seine schwarze Kutte war voller Staub, sein Gesicht blass und ausgemergelt vor Erschöpfung.
Dennoch lächelte er.
»Es gibt Neuigkeiten«, verkündete er. »Ich habe ihn gefunden.«
2.
Obwohl es keine Wegweiser gab und ein Gang wie der andere aussah, hatte Conn das untrügliche Gefühl, an dieser Kreuzung schon einmal gewesen zu sein.
Irrte er sich? War er tatsächlich die ganze Zeit über im Kreis gegangen, um sich just an dieser Stelle wiederzufinden? Oder glaubte er nur, sich an diese Stelle zu erinnern, weil eine Kreuzung wie die andere aussah? Was, wenn er ein Zeichen in das Mauerwerk geritzt hätte, um genau diese Frage zu beantworten?
Fieberhaft begann Conn zu suchen. Im dämmrigen Licht, dessen Quelle er nicht auszumachen vermochte, ließ er den Blick über das brüchige Gestein schweifen – und wurde fündig.
Da war das Zeichen, nach dem er gesucht hatte. Zwei Dreiecke, die ineinander verschlungen waren und so einen Stern formten.
Er kannte dieses Symbol, auch wenn er nicht wusste woher. Es strahlte eine Vertrautheit aus, die ihm ein wenig Hoffnung gab, vielleicht doch noch aus diesem endlos scheinenden Labyrinth zu entkommen, in dem er nun schon … wie lange gefangen war?
Er konnte es beim besten Willen nicht sagen.
Conn entschloss sich, diesmal den rechten Weg zu nehmen, und folgte dem Gang, der sich in nichts von dem vorigen unterschied. Plötzlich jedoch glaubte er, eine Stimme zu hören, die seinen Namen rief.
»Conwulf?«
Die Stimme hatte etwas Vertrautes, und er beschleunigte seinen Schritt. Eine Öffnung in der Mauer erschien, aus der spärlicher Lichtschein drang.
»Ich warte auf dich, Conwulf.«
Zögernd näherte er sich dem Durchgang, spähte vorsichtig hinein. Eine einsame Gestalt saß an einem Feuer, in einen weiten Mantel gehüllt, dessen Kapuze sie tief ins Gesicht gezogen hatte.
»Komm näher. Setz dich.«
Conn gehorchte und trat ein, setzte sich der Gestalt gegenüber, die er in diesem Moment zu erkennen glaubte.
»Chaya«, flüsterte er. »Du bist hier?«
Die Gestalt, von der im flackernden Feuerschein nur die Kinnpartie zu erkennen war, antwortete nicht.
»Wie geht es dem Kind?«, fragte Conn zögernd. »Unserem Kind?«
Da hob die Gestalt das Haupt und schlug die Kapuze zurück.
Conn erschrak.
»Nia!«
Sie antwortete nicht, sondern musterte ihn nur. Er hatte vergessen, wie schön sie war. Das hübsche Gesicht, das kastanienbraune Haar, der herausfordernde Blick ihrer dunklen Augen, all das weckte Erinnerungen – und sorgte gleichzeitig dafür, dass Conn tiefe Reue verspürte. Hätte er gewusst, dass Nia noch am Leben war und hier auf ihn wartete, hätte er niemals …
»Was hast du getan, Conwulf?«, fragte sie ihn. »Du hast deinen Schwur nicht gehalten und eine neue Liebe gesucht!«
»Ich wollte es nicht«, beeilte sich Conn zu versichern, »aber es ist geschehen. Chaya ist dir ähnlich, in vieler Hinsicht.«
»Und? Glaubst du, das mindert deine Schuld?«
»So viel ist geschehen, seit du … seit wir uns zuletzt sahen«, erwiderte Conn. »Ich habe geschworen, dich zu rächen, Nia, und ich wollte es mit aller Entschlossenheit. Folglich ging ich zum Turm von London, um Guillaume de Rein zu töten. Aber dann kam alles anders. Ich erfuhr von Dingen …«
»Was für Dinge?«, wollte sie wissen.
»Ein Mordkomplott gegen den Herzog der Normandie. Sein eigener Bruder will ihn aus dem Weg räumen, und kein anderer als der Mann, der dich getötet hat, soll dabei sein Werkzeug sein.«
»Bist du sicher?«
»Ich habe es mit eigenen Ohren gehört, Gott sei mein Zeuge. Aber dann wurde ich entdeckt und musste fliehen. Ich entkam mit knapper Not und einem Pfeil im Arm, und wäre Herr Baldric nicht gewesen …«
»Wer ist Baldric?«
Conn nickte – Nia konnte nicht wissen, wer Baldric war. »Baldric ist ein Normanne, aber nicht wie jene, die wir zu kennen glaubten. Er weiß, was es bedeutet, ausgestoßen zu sein, und er hat mich gerettet. Er ist wie ein Vater für mich.«
»Und – Chaya?«
Es schmerzte Conn, Nia den Namen aussprechen zu hören. »Was soll mit ihr sein?«, fragte er hilflos.
»Liebst du sie?«
Conn schaute Nia erschrocken an. Was sollte er ihr antworten? Die Wahrheit? Er horchte in sich hinein, um zu erforschen, worin diese Wahrheit bestand, als er merkte, wie Nia sich veränderte.
Ihre Züge wurden plötzlich fahl, dunkle Flecke zeichneten sich auf ihrer Haut ab, die Folge von Blessuren. Ihr Blick nahm einen verzagten Ausdruck an, und aus ihrem Mundwinkel kroch ein dünner Blutfaden. Conn erschrak – so hatte er sie bei ihrem letzten Zusammentreffen gesehen, als sie in seinen Armen gestorben war.
Es würde sich wiederholen!
»Nein!«, rief er entsetzt und sprang auf, streckte die Arme nach ihr aus, aber das Feuer zwischen ihnen loderte hell empor und hinderte ihn daran, sie zu erreichen. »Nia!«, brüllte er aus Leibeskräften. »Chaya…!«
»Haltet ihn fest!«
Baldric hatte sich über Conns Lager gebeugt und umfasste seine Handgelenke, während Berengar und Bertrand je ein Bein fixierten. Im Fieberwahn hatte er wie von Sinnen um sich geschlagen und war Gefahr gelaufen, sich zu verletzen.
Und er hatte laut gesprochen.
Anfangs waren es nur zusammenhanglose Worte gewesen, die keinen Sinn ergaben, aber dann waren ganze Sätze daraus geworden, so als würde Conn in seinen Träumen mit jemandem Zwiesprache halten – und seine Freunde hatten von Dingen erfahren, die ihnen noch immer eisige Schauer über den Rücken jagten.
»Ruhig, Junge«, sprach Baldric auf ihn ein, während er sich aus seinem Griff zu befreien suchte, »es ist alles gut. Ruhig.«
Tatsächlich entspannte sich Conn ein wenig. Sein Atem, zuletzt stoßweise und hastig, wurde langsamer, sein Gesicht, an dessen Schläfen die Adern dunkel hervorgetreten waren, entkrampfte sich.
»Ruhig«, sagte Baldric noch einmal, und als könnte Conn ihn durch die Schleier des Fiebertraumes hören, ließ sein Widerstand endlich nach, und seine Freunde konnten wagen, ihn wieder loszulassen.
»Was, verdammt noch einmal, war das?«, fragte Bertrand.
»Der Wahn des Wundfiebers«, erklärte Berengar. »Die Mönche, die ihn gefunden haben, sagen, dass er diese Anfälle öfter hat, mehrmals täglich.«
»Und spricht er immer im Schlaf?«, wollte Baldric wissen.
»Davon haben sie nichts gesagt. Viele, die das Wundfieber plagt, fantasieren und reden wirres Zeug.«
Baldric nickte und ließ seinen Blick durch das geräumige Gewölbe schweifen, das bis vor wenigen Tagen noch ein öffentliches Bad gewesen war – nun diente es den Cluniazensern als Hospital. Dicht an dicht lagen verwundete Streiter Christi auf dem Boden, viele davon mehr tot als lebendig. Schreie erfüllten die schwüle Luft, und wohin man auch blickte, war Blut; dennoch war es einer mehr als glücklichen Fügung zu verdanken, dass Conn hier war.
Die Mönche hatten berichtet, dass sie ihn am Morgen nach der Schlacht im Judenviertel gefunden hatten, seiner Waffen und seiner Rüstung beraubt. Da sich ein Armbrustgeschoss in seiner Schulter befand, hatten sie ihn für tot gehalten und auf einen Karren geladen, um ihn zusammen mit unzähligen anderen Leichen aus der Stadt zu schaffen. In diesem Moment jedoch war ein Stöhnen aus seinem Mund gedrungen, woraufhin man ihn ins Hospital gebracht hatte, freilich ohne noch viel auf sein Leben zu geben.