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Der Weg zum südlichen Ende der Stadt führte an der alten Kathedrale Antiochias vorbei, die von den Türken als Moschee genutzt worden war und unter der Anleitung des päpstlichen Legaten Adhémar von Monteil nun wieder ihrer ursprüng­lichen Bestimmung zugeführt wurde. Wie es hieß, sollte dem Herrn in einer feierlichen Messe für die Eroberung von Antiochia gedankt werden, doch noch wagte niemand, die Glocken zu läuten. Zu frisch waren die Wunden, zu groß die Entbehrungen – und zu überwältigend die feindliche Streitmacht, die sich im Norden sammelte.

Als Baldric das jüdische Viertel erreichte, fiel die hektische Betriebsamkeit entlang der Hauptstraße schlagartig hinter ihm zurück. Nur die Häuser am äußersten Rand des Viertels wurden von Kreuzfahrern bewohnt, die anderswo keine Bleibe gefunden hatten. Je weiter Baldric jedoch in das Viertel vordrang, desto leerer wurden die Gassen. Die Eingänge der Häuser waren verbarrikadiert, ebenso die Fenster. Baldric nahm an, dass die Bewohner im dunklen Inneren saßen und um ihr Leben zitterten. Nach dem, was geschehen war, hatten sie auch allen Grund dazu.

Der Marktplatz war verlassen, das Eingangstor der Synagoge stand weit offen. Soldaten des flämischen Grafen Robert hatten sie noch am Morgen der Eroberung geplündert, nichts und niemand hatte sie davon abhalten können. Die Trümmer umgestürzter Wagen lagen umher, hier und dort ein Leichnam, der bei der Räumung wohl übersehen worden oder vielleicht auch erst später hinzugekommen war. Ein Menschenleben galt nichts in diesen Tagen, entsprechend hatte Baldric die Hand am Schwertgriff, während er langsam über den Marktplatz ging und sich dabei vorsichtig umblickte.

Plötzlich war da eine Bewegung unmittelbar neben ihm.

Eine gedrungene Gestalt setzte hinter einer niedrigen Mauer hervor und wollte in Windeseile in die nächste Gasse flüchten – Baldric jedoch kam ihr zuvor.

»Halt!«, befahl der Normanne mit lauter Stimme, worauf die Gestalt tatsächlich kurz innehielt – genügend Zeit für Baldric, um einen beherzten Schritt zu machen und sie am Kragen ihres Gewandes zu packen. Es war ein Knabe von acht oder neun Jahren. Er schrie nicht, aber nackte Furcht sprach aus seinen Augen. Panisch wand er sich im Griff seines einäugigen Häschers, der ihn unnachgiebig festhielt.

»Das Haus Ezra Ben Salomons«, verlangte Baldric zu wissen. »Wo befindet es sich?«

Der Junge gebärdete sich weiter wie von Sinnen.

»Hörst du nicht? Ich suche das Haus von Ezra Ben Salomon!«

Plötzlich hielt der Knabe inne. Baldric nahm nicht an, dass er Französisch sprach, den Namen jedoch schien er verstanden haben.

»Ben Salomon?«, fragte er leise und schaute ängstlich auf.

Baldric nickte, worauf der Junge die Gasse hinab deutete, in die er hatte flüchten wollen.

»Ist das auch die Wahrheit?«

»Ben Salomon«, wiederholte der Knirps, wobei ein so unschuldiges Lächeln über seine Züge huschte, dass selbst der grimmige Baldric grinsen musste.

»Danke«, sagte er und ließ den Jungen los – worauf dieser pfeilschnell davonflitzte und schon im nächsten Moment in einem Mauerspalt verschwunden war.

Baldric schlug den Weg ein, der ihm bezeichnet worden war, und fand sich schon kurz darauf vor dem Eingang eines eindrucksvollen Wohnhauses wieder, das einem reichen Bürger gehören musste. Die hölzerne Tür war aus den Angeln gerissen, die Trümmer lagen auf der Schwelle. Jenseits des Eingangs herrschte schummriges Halbdunkel.

Baldric schürzte die Lippen, dann zog er sein Schwert, stieg die Stufen des Portals hinauf und trat ein.

Die Eingangshalle war verwüstet.

Die Malereien an Wänden und Decke waren rußgeschwärzt, Scherben tönerner Amphoren bedeckten den Boden, die knirschten, sobald Baldric darauftrat. Vorsichtig bewegte er sich weiter und erreichte einen schmalen Gang, der auf einen von Säulen gesäumten Innenhof führte. Der Brunnen dort schien versiegt zu sein, das Standbild in seiner Mitte war umgestürzt. Von den Durchgängen, die auf den Säulengang mündeten, waren die Vorhänge herabgerissen worden, die Trümmer hölzerner Möbel lagen überall verstreut. Nicht nur Habgier war hier am Werk gewesen, stellte Baldric fest, sondern auch blinde Zerstörungswut.

Ein plötzliches Geräusch ließ ihn verharren.

Zu seiner Linken klaffte ein schmales Fenster, dahinter herrschte unergründliches Dunkel, in dem sich jemand zu verbergen schien.

»Ich tue euch nichts«, erklärte Baldric und hielt das Schwert so von sich gestreckt, dass es mit der Spitze nach unten zeigte. Auf diese Weise bekundete er seine friedlichen Absichten, konnte sich aber auch verteidigen, wenn es nötig werden sollte. »Ist dies das Haus von Ezra Ben Salomon? Ich bin auf der Suche nach …«

Er konnte den Satz nicht zu Ende sprechen, denn ein Schatten setzte plötzlich durch die Fensteröffnung. Im einfallenden Tageslicht sah Baldric eine gekrümmte Klinge blitzen, er sprang zurück und brachte sein Schwert empor. Wuchtig trafen die beiden Waffen aufeinander, jedoch nur wenige Male – dann zerbrach die gegnerische Klinge mit blechernem Klang. Mit einer Verwünschung auf den Lippen sprang der Angreifer zurück, und erstmals konnte Baldric sein Gesicht sehen. Es gehörte einem jungen Mann von vielleicht zwanzig Wintern, aus dessen Augen dem Ritter blanker Hass entgegenschlug. Er schien wild entschlossen, sich mit den Überresten seiner schäbigen Klinge auf Baldric zu stürzen.

»Tu das nicht«, rief Baldric. Er betonte jedes einzelne Wort, weil er hoffte, dass der andere die Bedeutung seiner Worte so erfassen würde. »Wenn du mich erneut angreifst, muss ich dich töten, und das will ich nicht.«

»Wieso nicht?«, scholl es zu Baldrics Überraschung in zwar schlechtem, aber dennoch verständlichem Französisch zurück. »Ihr habt schon so viele Unschuldige getötet. Was kommt es auf einen mehr oder weniger an?«

»Ich bin nicht hier, um zu kämpfen«, erklärte Baldric und schob sein Schwert demonstrativ zurück in die Scheide.

»Was willst du dann, Christenhund?«

»Ist dies das Haus Ezra Ben Salomons?«

»Was deinesgleichen davon übrig gelassen hat.«

»Ich bin auf der Suche nach der Jüdin Chaya. Mir wurde gesagt, dass sie hier lebt.«

»Was willst du von ihr?«

»Kannst du mich zu ihr bringen, ja oder nein?«

Der junge Mann taxierte den Normannen, die Zähne gefletscht wie ein Raubtier. Baldric glaubte ihm anzusehen, dass er wusste, von wem die Rede war. Die Frage war eher, ob er sein Wissen teilen würde.

»Bitte«, fügte der Ritter deshalb hinzu. »Ein Leben ist in Gefahr.«

»Wessen Leben?«, fragte der Jude unbeeindruckt.

»Das des Angelsachsen Conwulf«, erklärte Baldric und straffte sich. »Er hat Chaya einst das Leben gerettet. Sie steht in seiner Schuld.«

»Meine Cousine steht in niemandes Schuld, Christenhund!«, spie der junge Mann und verriet damit nicht nur, dass er Chaya kannte, sondern sogar seine Verwandtschaft mit ihr. »Und nach allem, was dieser elende Engländer ihr angetan hat, solltest du seinen Namen in diesem Haus besser nicht mehr in den Mund …«

»Es ist gut, Caleb«, brachte ihn jemand zum Verstummen. Eine Frau trat aus einem der Durchgänge. Sie trug einen blauen Umhang und einen Schleier vor dem Gesicht. Als sie ihn lüftete, dankte Baldric seinem Schöpfer – es war Chaya.

»Ihr lebt«, stellte er erleichtert fest. »Also war Conns Opfer nicht vergeblich.«

»Sein Opfer?« Das Spiel ihrer dunklen Augen verriet Furcht. »Was ist geschehen?«

»Conn liegt schwer verwundet, Chaya. Und er braucht Eure Hilfe.«

Es war ein Mysterium.

In der Abgeschiedenheit seines bescheidenen Quartiers, das sich im Kellergewölbe eines alten Wohnhauses befand, brütete Berengar über der von ihm gestohlenen Schriftrolle. Je mehr er jedoch davon entzifferte, desto überzeugter war er, zumindest diese eine Sünde nicht vergeblich begangen zu haben.