»Ich weiß es nicht«, ließ jener sich schließlich vernehmen, ohne dabei aufzuschauen. »So viele der unseren sind gefallen.«
»Und es werden noch mehr werden. Ist dir aufgefallen, dass alles, was ich damals vorausgesagt habe, eingetroffen ist? Es ist uns gelungen, Antiochia einzunehmen, aber einmal mehr haben sich unsere Anführer als unfähig erwiesen. Zwar halten wir die Stadt besetzt, aber was nützt es uns? Hunger und Mangel wüten schlimmer als je zuvor, und vor den Toren sammelt sich eine riesige Streitmacht, deren einziges Ansinnen darin besteht, jeden Einzelnen von uns zu töten!«
»Ich weiß«, ächzte der Provenzale, den die bloße Vorstellung an den Rand einer Panik zu bringen schien. »Was ist nur aus unserem Traum geworden, Guillaume?«
»Wir sind erwacht und befinden uns nun in der Wirklichkeit. Und diese Wirklichkeit wird uns umbringen, wenn wir nichts unternehmen! Wie viele Pferde haben unsere Kämpfer noch? Vierhundert? Und wie viele von uns sind nicht mehr in der Lage, eine Rüstung zu tragen, geschweige denn ein Schwert zu führen und gegen die Heiden zu kämpfen? Auf jeden unserer halb verhungerten Ritter kommen fünf Sarazenen, die danach trachten, ihm bei lebendigem Leib das Herz aus der Brust zu reißen.«
»Ich weiß, ich weiß.«
Guillaume beschloss, aufs Ganze zu gehen. Das Haus, das er zu seinem Quartier gemacht hatte, befand sich ein wenig abseits der anderen Kreuzfahrerunterkünfte, sodass sie ungestört waren. Die beiden Wachen, die er draußen vor der Tür postiert hatte, waren ihm zudem treu ergeben. Was immer gesprochen wurde, würde diesem Raum niemals verlassen.
»Eustace, Eustace, was ist nur aus dir geworden? Wo sind deine Zuversicht und dein Glaube geblieben?«
Zum ersten Mal hob der andere sein Haupt und schaute zu Guillaume auf. Seine eingefallenen Züge, sein fleckiger Teint und die schwarzen Ränder um die blutunterlaufenen Augen ließen ihn elend aussehen. »Ich bin schwach. So schwach.«
»Daran bist du selbst schuld«, sagte Guillaume ohne Mitleid. »Sieh mich an, Eustace – ich bin wohlauf und bei Kräften, weil ich das Fleisch, das mich nährt, nicht verschmähe.«
»Aber ich kann es nicht«, murmelte Eustace, die totengleichen Züge von Grauen verzerrt. »Ich habe in meinem Leben manches getan, worauf ich nicht stolz bin, Bruder. Aber ich werde nicht Hand an das Fleisch meines Nächsten legen.«
»Du bist ein Schwächling, genau wie dieser Feigling, der sich mein Vater nennt.« Guillaume unternahm nicht den geringsten Versuch, seine Abscheu zu verbergen. »Die Welt, wie wir sie kannten, existiert nicht mehr, Eustace. Ein neues Zeitalter bricht an, und wer herrschen möchte, muss bereit sein, Grenzen zu überschreiten.«
Eustace blieb eine Erwiderung schuldig und begnügte sich damit, auf den steinernen Boden zu starren, so als lägen dort die Trümmer seiner zerbrochenen Träume. Sein ehrgeiziges Ziel, die heiligen Reliquien zu finden und sie zu Macht und Ruhm zu benutzen, schien irgendwo im Wüstensand zurückgeblieben zu sein.
»So habe ich es nicht gewollt, Guillaume«, flüsterte der Provenzale und vergrub das Gesicht abermals in den Händen. »So habe ich es nie gewollt.«
»Wie gut, dass unsere Mitbrüder dich jetzt nicht sehen können«, höhnte Guillaume. »Was würden sie wohl sagen, wenn sie ihren großen Anführer in einem so jämmerlichen Zustand vorfänden? Willst du so in Erinnerung bleiben, Eustace? Als jemand, der an den Anforderungen seines Amtes verzweifelt ist? Der im Augenblick der Bewährung versagt hat?«
»Nein«, entgegnete Eustace tonlos und ohne aufzusehen. »Das will ich nicht.«
»Dann sollten wir handeln«, schlug Guillaume vor, der das Gefühl hatte, dass die Festung reif war zum Sturm. »Die Zeit drängt. Der Feind versammelt sich vor den Toren, und wenn er erst angreift, ist es zu spät.«
Der Anführer der Bruderschaft nickte. Die Tatsache, dass etwas unternommen werden musste, leuchtete ihm offenbar ein, auch wenn ihm die Kraft dazu fehlte. »Was können wir tun?«
»Weißt du noch, als ich dir von Peter Bartholomaios erzählte?«
Eustaces furchtsame Reaktion verriet, dass er sich erinnerte.
»Das ist unsere Stunde. Bartholomaios ist in der Stadt. Wir dürfen nicht länger zögern, uns seiner zu bedienen. Die Zeit ist reif dafür.«
Eustace lachte freudlos auf. »Wofür? Für eine Lüge?«
»Für etwas, das unseren Kämpfern neuen Mut geben und die bestehenden Machtverhältnisse zu unseren Gunsten beeinflussen wird.«
Eustace starrte finster sinnierend vor sich hin. »Nein«, bäumte er sich dann zu einer mühseligen Bekundung freien Willens auf. »Ich habe dir schon einmal gesagt, dass ich davon nichts wissen will, Guillaume. Unser Weg ist der der Wahrheit, nicht jener der Lüge.«
Guillaumes grüne Augen verengten sich zu Schlitzen. »Unser Weg wird in wenigen Tagen zu Ende sein, wenn kein Wunder geschieht. Und da weit und breit kein Wunder in Sicht ist, werden wir es wohl selbst übernehmen müssen, dafür zu sorgen.«
Eustace musterte ihn, entsetzt und furchtsam zugleich. »Was ist nur aus dir geworden, Bruder? Es gebricht dir an Ehrfurcht.«
»Und dir an Weitsicht. Du bist ein Schwärmer, Eustace, aber die Zeit der Schwärmerei ist vorbei. Daher werde ich tun, was ich längst hätte tun sollen.«
»Nein!«, rief der andere und sprang auf. »Das darfst du nicht! Du bringst unser aller Seelen in Gefahr!«
»Willst du lieber von den Heiden dahingemordet werden? Dann nur zu, Eustace, denn ein grausamer Tod ist dir gewiss, ganz gleich, ob du im Kampf stirbst oder ob du noch lange genug lebst, dass sie dich foltern und dir die Eingeweide herausreißen!«
Mund und Augen weit aufgerissen, starrte Eustace ihn an. Guillaume wartete auf seine Erwiderung, die Hand in der Nähe seines Dolchs.
Es wäre leicht gewesen, die Waffe zu zücken, sie dem geschwächten Rivalen in die Brust zu stoßen und so die Machtverhältnisse in der Bruderschaft ein für alle Mal zu klären. Einen Augenblick lang erwog Guillaume, es zu tun.
Dass er sich dagegen entschied, lag nicht etwa daran, dass er mit Eustace Mitleid gehabt hätte oder sich ihm in irgendeiner Weise verpflichtet fühlte; sondern weil seine Mutter es ihm ausdrücklich untersagt hatte. Eleanor war der Ansicht, dass Eustaces plötzliches Ableben innerhalb der Bruderschaft zu viele Fragen aufgeworfen hätte. Außerdem schien sie eine gewisse Vorliebe für den Provenzalen zu hegen, was Guillaume doppelt eifersüchtig machte.
Plötzlich erlosch die Flamme des Widerstands in Eustaces Blick. Sein Mund klappte wieder zu, und er sank auf den Hocker zurück. »Tu, was du tun musst«, ächzte er – und Guillaume wusste, dass er den Kampf gewonnen hatte.
»Adelar?«, rief er laut.
Einer der beiden Vertrauten, die vor der Tür Wache gehalten hatten, trat ein. »Ja, Bruder?«
»Hol Bartholomaios herein. Es gibt viel zu besprechen.«
6.
Antiochia
15. Juni 1098
Conns Lider waren schwer wie Blei. Als es ihm dennoch gelang, sie für einen Moment zu heben, war er sicher, sein sterbliches Dasein hinter sich gelassen zu haben und im Jenseits angelangt zu sein.
»Nia?«
Conns Stimme klang seltsam fremd in seinen Ohren, so als hätte er sie eine Ewigkeit nicht gehört. Wie gebannt schaute er zu dem Gesicht auf, das über ihm schwebte. Dunkles Haar umgab die anmutigen Züge, die Augen waren voller Zuneigung und Liebe.
»Nia«, murmelte er. »Endlich.«
»Ich bin es, Conn«, erwiderte sie mit einer Stimme, die sanft war und voller Mitgefühl, jedoch nicht zu ihr passte. Durch die Schleier der Benommenheit nahm Conn zur Kenntnis, wie sich ihr Gesicht veränderte, nur der liebevolle Ausdruck ihrer Augen blieb bestehen. Jäh wurde ihm klar, dass er sich geirrt hatte. Es war nicht Nia, in deren Gegenwart er die Augen aufgeschlagen hatte, und ganz offensichtlich war er auch nicht gestorben.