Zu seiner Verblüffung stellte Conn fest, dass er sich nicht mehr im Hospital der Mönche befand. Panik befiel ihn für einen Moment, weil er dachte, er wäre jenen Elenden zugeschlagen worden, denen man die letzten Sakramente erteilte und die man dann zum Sterben hinausbrachte. Aber dann wurde ihm klar, dass er ganz allein war in der Kammer und man ihm ein solches Privileg ganz sicher nicht hätte zukommen lassen, wenn alle Hoffnung verloren wäre. Außerdem fühlte er sich sehr viel besser, als es beim letzten Erwachen der Fall gewesen war. Die Schmerzen hatten merklich nachgelassen, auch das Fieber schien vorüber zu sein.
Verblüfft schaute er sich um.
Decke und Wände der Kammer waren mit dunklem Holz getäfelt. Lieblich süßer Duft erfüllte die kühle Luft, und das wenige Sonnenlicht, das durch eine hohe Fensteröffnung fiel, wurde von einem hölzernen Gitter in dünne Schäfte geschnitten. Jenseits dieser fahlen Schäfte gewahrte Conn eine große Gestalt, die auf einem hölzernen Schemel hockte.
»B-Baldric?«
Der Normanne, der offenbar eingeschlafen war, schreckte auf. Wie von einer giftigen Schlange gebissen, schoss er in die Höhe und war sofort an Conns Lager.
»Du bist erwacht«, sprach er das Offensichtliche aus.
Conn nickte nur. Sein Nacken schmerzte noch immer dabei, und sein Schädel brummte, aber er hatte nicht mehr das Gefühl, vor Pein zu vergehen, und seine Sinne und sein Verstand waren klarer als bei seinem letzten Erwachen.
»Wo bin ich?«
»Noch auf Erden, du elender angelsächsischer Dickschädel!« Baldrics verbliebenes Auge weitete sich. »Dein Starrsinn hat dich beinahe das Leben gekostet. Hast du Spaß daran, einen armen alten Sünder wie mich zu quälen?«
»Verzeih«, flüsterte Conn, der zu sehen glaubte, wie es im Auge seines Adoptivvaters feucht blitzte.
»Du bist im Viertel der Juden, Junge«, fuhr Baldric fort. »Auf Chayas Wunsch haben wir dich hierhergebracht, sobald wir nicht mehr fürchten mussten, dass sich deine Wunde unterwegs wieder öffnet. Zum einen war sie der Meinung, dass sie dich hier besser behandeln könnte. Zum anderen«, fügte er leiser hinzu, »wollten die Mönche ihr nicht erlauben, ihre Heilkunst anzuwenden.«
Chaya.
Conn erinnerte sich, dass sie an seinem Lager gewesen war. Sie hatten miteinander gesprochen, und sie hatte ihm von ihrem Kind erzählt, von seinem Sohn …
»Wo ist sie?«
»Ein paar Besorgungen machen. Bertrand ist bei ihr, also mach dir keine Sorgen.«
Conn nickte, einstweilen beruhigt.
»Geht es dir besser?«
»Ich denke schon.«
»Das hast du ihr zu verdanken. Chaya hat alles getan, um dich zu retten. Du verdankst ihr dein Leben.«
»Wie lange war ich …?«
»Zwei Wochen«, lautete die erschütternde Antwort. »Zwei Wochen, in denen wir nicht wussten, ob du dich jemals wieder von diesem Lager erheben würdest. Wäre Chaya nicht gewesen, hätten der Blutverlust und das Wundfieber dich dahingerafft wie so viele andere.« Baldric schloss für einen Moment die Augen, und Conn erinnerte sich dunkel, was ihm bei seinem letzten Erwachen berichtet worden war – von Heerscharen muselmanischer Krieger, die vor den Toren Antiochias lagerten und bereit waren zum Sturm.
»Was ist geschehen?«, wollte er wissen.
Sein Adoptivvater betrachtete ihn prüfend, so als müsste er abwägen, ob Conn für die Neuigkeiten schon bereit war. »Wir haben gekämpft, und Gott war auf unserer Seite.«
»Wir … wir haben gesiegt?«
Baldric schüttelte den Kopf. »Nicht wir, Junge. Der Allmächtige selbst war es, der den Feind vor unseren Toren vertrieben hat. Zuerst, indem er uns die Heilige Lanze sandte.«
»Die Heilige Lanze?«
»Die heilige Reliquie vom Berge Golgatha. Den Spieß, den der römische Hauptmann in die Seite des Erlösers stieß. Man fand ihn in der Kathedrale, als die Verzweiflung am größten war. Doch das ist noch nicht alles. Denn der Herr half uns auch, indem er die Sterne vom Himmel fallen und auf das Lager des Feindes stürzen ließ. Von diesem Zeitpunkt an wussten wir, dass der Herr auf unserer Seite war, all unseren Verfehlungen zum Trotz. Und als auch noch die himmlischen Heerscharen in den Kampf eingriffen, war die Schlacht entschieden.«
»Himmlische Heerscharen?« Conn richtete sich halb auf seinem Lager auf, und anders als zuvor gelang es ihm, sich erhoben zu halten, indem er sich auf seine Ellbogen stützte. »Was ist passiert?«
Baldric wippte nachdenklich auf seinem Schemel vor und zurück. Offenbar hatte er die jüngsten Ereignisse selbst noch nicht verarbeitet. Ehrfurcht stand in seinem narbigen Gesicht zu lesen, in seinem Auge lag ein Lodern, das Conn lange nicht mehr darin gesehen hatte.
»Am frühen Morgen des gestrigen Tages«, begann der Normanne seinen Bericht mit vor Erregung bebender Stimme, »durchschritt ein Großteil unserer Streiter das Brückentor, um sich dem Feind ein letztes Mal zu stellen. Uns allen war klar, dass diese Schlacht über unser aller Wohl oder Untergang entscheiden würde, also boten wir alles auf, was wir hatten. Die letzten Rationen an Proviant wurden ausgegeben, und die wenigen Pferde, die wir noch hatten, bekamen das letzte Getreide zu fressen. Dann zogen wir in die Schlacht. Godefroy de Bouillon und unser Herzog Robert ritten an der Spitze, Normannen und Lothringer folgten ihnen wie ein Mann. Unsere italischen Waffenbrüder wurden von Herrn Bohemund angeführt, die Provenzalen schließlich ritten unter dem Banner des Bischofs von Le Puy. Wir alle, die wir halb verhungert waren, wussten, dass niemand von uns überleben würde, wenn die Schlacht verloren ginge, also flehten wir um göttlichen Beistand. Dem Heer voran schritten die Mönche, die weiße Büßergewänder angelegt hatten und Choräle anstimmten, während oben auf den Zinnen die Priester für uns beteten und als Opfergabe Weihrauch zum Himmel stiegen ließen. Dem Heer voraus jedoch wurde jene Waffe getragen, die uns der Herr selbst offenbart hatte: die Heilige Lanze! Jahrhunderte lang war sie verschollen, im Augenblick der größten Not jedoch kehrte sie in die Obhut der Christenheit zurück, um uns neue Kraft zu geben.«
»Wann ist das gewesen?«
»Kurz vor der entscheidenden Schlacht. An dem Tag, an dem du das letzte Mal aus deiner Ohnmacht erwacht bist.«
Conn nickte. Er glaubte sich zu erinnern.
Hatte er nicht Glockengeläut gehört und aufgeregtes Geschrei?
Hatte er nicht gesehen, wie Baldric sich bekreuzigte?
»Was ist dann passiert?«, wollte er weiter wissen.
»Wir erwarteten, dass die Sarazenen uns angreifen würden, sobald wir das freie Feld erreichten, aber das taten sie nicht. Ihrem Anführer Kur-Bagha ging es wohl darum, uns alle aus der Stadt zu locken und auf einen Streich zu vernichten. Wir zogen also mutig weiter, auch dann, als der Feind seine Pfeile auf uns niederprasseln ließ, und so erreichten wir seine Reihen. Viele von ihnen wurden erschlagen, aber zur Schlacht kam es dennoch nicht, denn die Muselmanen zogen sich zurück – ob aus Feigheit oder weil es ihrem Plan entsprach, kann ich nicht beurteilen. Aber in dem Moment, da wir ihre Verfolgung aufnahmen, erschienen auf der Kuppe eines Hügels Ritter in strahlenden Rüstungen, deren Banner und Pferde so rein und weiß waren wie Schnee. Kein anderer als der Heilige Georg, der den heidnischen Drachen erschlug, führte sie an – und in diesem Augenblick, mein Junge, wussten wir, dass die Schlacht gewonnen war.«
Conn schaute seinem Adoptivvater prüfend ins Gesicht. Es fiel ihm schwer zu glauben, dass der Allmächtige selbst seine Streiter in die Schlacht um Antiochia geschickt haben sollte. Aber er konnte sehen, dass der sonst so bodenständige Baldric nicht den geringsten Zweifel daran hegte. »Was ist weiter geschehen?«
»Die Muselmanen ergriffen die Flucht«, fuhr Baldric fort, vor dessen fiebrig glänzendem Auge die Schlacht noch einmal stattzufinden schien. »Wir jagten hinter ihnen her und erschlugen so viele, wie wir konnten – auch als sie versuchten, das Gras des Wadi in Brand zu setzen. Wir folgten ihnen zu ihrem Lager und plünderten es. Tausende von Heiden fanden den Tod, und am Ende ergab sich selbst die Besatzung der Zitadelle, die Graf Raymond mit nur wenigen hundert Kämpfern in Schach gehalten hatte. Der Sieg war vollkommen, und die Freude darüber dauert bis heute an. Aus diesem Grund läuten die Glocken, und in den Kirchen werden ohne Unterlass Dankmessen gehalten. Das alles jedoch würde mir wohl nichts bedeuten, wärst du nicht mehr aus dem Fieber erwacht«, fügte der Normanne hinzu, und die Tränen, die ihm in den Augenwinkel traten, schienen die Glut darin zu löschen. »Der Herr hat alle meine Gebete erhört, und dafür danke ich ihm.«