Einem Vogel gleich breitete Bahram al-Armeni die Flügel aus und schwang sich in die Lüfte. Allen Gesetzen der Natur zum Trotz fiel er nicht zurück zum Boden, sondern schwebte in luftiger Höhe.
Die Mauern, die sein Sichtfeld eben noch begrenzt hatten, fielen unter ihm zurück, und er stieg senkrecht empor. Der Logik des Traumes folgend, wunderte er sich nicht darüber; es war ihm auf seltsame Weise selbstverständlich, wie ein Geschöpf des Himmels auf den Schwingen des Windes zu reisen und auf die Welt hinabzublicken, auf die hohen Mauern und engen Windungen, denen er nur mit knapper Not entronnen war.
Schon nach wenigen Augenblicken wusste Bahram nicht mehr zu sagen, von wo aus er zu seinem Flug aufgebrochen war. Die Mauern, die in einem rechtwinklig angeordneten System gebaut waren, ähnelten einander, sodass eine Orientierung unmöglich war. Die Wege, die sich zwischen ihnen erstreckten, endeten bald in kurzen Sackgassen, bald schienen sie ans Ziel zu führen, nur um jäh von einer weiteren Wand begrenzt zu werden, die unvermittelt auftauchte. Je höher Bahram stieg, desto mehr Mauern wurden sichtbar. Von einem Horizont zum anderen erstreckten sie sich, und ein Menschenleben hätte wohl nicht ausgereicht, um alle Wege zu begehen.
Ein endloses Labyrinth.
Der Augenblick der Erkenntnis war auch der, in dem Bahram die Augen aufschlug. Er fand sich auf kargem Boden liegend, im Schutz eines großen Felsens. Vor ihm, in einer Grube, damit es aus der Ferne nicht sofort gesehen werden konnte, flackerte ein Feuer, das er entfacht hatte, um Schlangen und Skorpione fernzuhalten. Über ihm funkelten die Sterne einer klaren Nacht, friedvoll und unergründlich, der Ereignisse ungeachtet, die sich auf Erden abgespielt hatten.
Weshalb Bahram von einem Labyrinth geträumt hatte, wusste er nicht. Vielleicht, weil es seinen eigenen Zustand in gewisser Weise spiegelte; weil er selbst nach einem Ausweg suchte und ihn nicht fand.
Die Wunde schmerzte.
Bahram hatte die Speerspitze nicht kommen sehen, die unterhalb seiner linken Hüfte das Rüstzeug durchstoßen hatte und ein Stück in den Oberschenkel gedrungen war. Er hatte nur ein heißes Brennen gefühlt und alle Hände voll damit zu tun gehabt, im Sattel zu bleiben, denn das Pferd hatte sich in wilder Panik aufgebäumt und ihn um ein Haar abgeworfen.
An den Rest erinnerte sich Bahram nur dunkel – daran, wie er die Zügel fest gefasst und mit dem Schwert wahllos um sich geschlagen hatte, in der festen Überzeugung, seinen letzten Kampf zu fechten. Er vermochte nicht zu sagen, bei wie vielen Gegnern die Klinge durch Fleisch und Knochen gedrungen war, aber es war sein Glück gewesen, dass seine ghulam, die sich auf Kur-Baghas Weisung hin zunächst zurückgehalten und erst vergleichsweise spät in die Schlacht eingegriffen hatten, auf eine Horde Leichtbewaffneter getroffen waren – hätte es sich um eine Schlachtreihe gepanzerter Reiter gehandelt, wäre Bahram vermutlich nicht entkommen. Er entsann sich, zusammen mit einem Unterführer namens Yussuf den Kordon der Angreifer durchbrochen zu haben. Trotz seiner Wunde und der quälenden Schmerzen hatte er versucht, die askar neu zu ordnen. Doch die Schlacht war bereits entschieden gewesen, die Auflösungserscheinungen in Kur-Baghas Heer zu weit vorangeschritten, als dass die Tapferkeit Einzelner die Niederlage noch hätte abwenden können.
Einer der Ersten, die sich zur Flucht wandten, war Duqaq von Damaskus gewesen, der Tatsache ungeachtet, dass noch hunderte seiner Krieger in den Kampf gegen den Feind verstrickt waren. Die Aussicht einer zweiten vernichtenden Niederlage innerhalb weniger Monate hatte Duqaqs hochfliegenden Plänen ein jähes Ende gesetzt und ihn dazu bewogen, dem Atabeg von Mossul das ohnehin nur brüchige Bündnis aufzukündigen. Und er war keineswegs allein gewesen.
Auch andere Emire, die wohl befürchteten, dass Kur-Baghas ohnehin schon beträchtliche Machtfülle noch zunehmen könnte, wenn er den Kampf um Antiochia für sich entschied, hatten ihren Kriegern im entscheidenden Moment den Rückzug befohlen – dann nämlich, als es darauf angekommen war, den feindlichen Ausfall ins Leere laufen zu lassen und den Gegner zu ermüden. Statt nur einen scheinbaren Rückzug vorzutragen und dann überraschend anzugreifen, hatten sie ihr Heil in der Flucht gesucht. Lediglich Suqman von Diyarbakir und Janah al-Dawla von Homs hatten ihre Stellungen im Norden und Westen der Stadt gehalten und auch dann noch tapfer gefochten, als andere den Kampf längst verlorengegeben hatten, allen voran Duqaq. Nicht die Unerschrockenheit der Kreuzfahrer, die nichts zu verlieren gehabt und mit dem Mut des Verzweifelten gekämpft hatten, hatte am Ende über Sieg und Niederlage entschieden, sondern der Egoismus der muslimischen Fürsten, die ihr eigenes Wohl über das des Reiches gestellt hatten.
Die Erkenntnis war ernüchternd – so sehr, dass Bahram Duqaq die Gefolgschaft verweigerte hatte. Zusammen mit einer Abteilung ghulam hatte er erbittert weitergekämpft, während der Fürst von Damaskus abgezogen war, flankiert von seinen vertrauten Offizieren und den Fußkämpfern der ajnad, die ohnehin nur zögernd bereit gewesen waren, fern ihrer Heimat einen Kampf für fremde Machthaber zu fechten. Dass die Bedrohung durch die Kreuzfahrer nicht nur Einzelne anging und man ihr nur begegnen konnte, indem man fest zusammenstand, hatte Duqaq nicht begriffen, und Bahram wusste nicht zu sagen, welche Wunde ihm größeren Schmerz bereitete – jene, die die Speerspitze hinterlassen hatte, oder die bittere Enttäuschung über die Niederlage und das ehrlose Verhalten seines Fürsten.
Über Jahrzehnte hinweg hatte er den Machthabern von Damaskus treu gedient, zumal er ihnen viel zu verdanken hatte. Duqaqs Verhalten jedoch machte es ihm unmöglich, nach Hause zurückzukehren. Zum einen, weil der Fürst fraglos nach einem Schuldigen für den Fehlschlag suchen und nicht lange brauchen würde, um ihn in seinem armenischen Unterführer auszumachen, dem Christen, dem er vertraut und der ihn verraten hatte; zum anderen, weil Bahram es nicht länger ertragen hätte, unter dem Banner eines Potentaten zu kämpfen, der seine Pflichten so sträflich missachtete.
Bahram wollte kämpfen, wollte den Widerstand gegen die Eindringlinge fortsetzen, aber ihm war bewusst, dass er das nicht in Damaskus tun konnte. Sein Ziel war Acre weit im Süden, wo viele Armenier, auch solche christlichen Glaubens, unter dem Banner des Kalifen von Kairo fochten. Seinem Heer wollte sich Bahram anschließen – Duqaq würde vermutlich glauben, dass er im Kampf gefallen sei, schließlich gab es Zeugen dafür, dass eine Speerspitze ihn ereilt hatte. Bahram war also frei – vorausgesetzt, er kehrte niemals nach Damaskus zurück.
Mit zusammengebissenen Zähnen betrachtete er die Wunde, die er mit einem Streifen seiner Tunika notdürftig verbunden hatte. Die Blutung hatte aufgehört, aber der pochende Schmerz erinnerte Bahram fortwährend an die Niederlage.
Selten zuvor hatte der Armenier einen Feind mit derartiger Verbissenheit kämpfen sehen. Der Fund der Heiligen Lanze, so schien es, hatte den Kreuzfahrern übermenschliche Kräfte verliehen. Womöglich, sagte sich Bahram, war Gott tatsächlich auf ihrer Seite gewesen, als sie an jenem Morgen in die Schlacht zogen. Die Vorstellung, dass ihr Glaube auch der seine war, hatte etwas Befremdliches und zugleich etwas, das ihn ängstigte. Denn was hatte das Morgenland, das doch an seiner Ichsucht krankte und zersplittert war bis ins Mark, jenen Kriegern entgegenzusetzen, die sich von Gott auserwählt wähnten und es womöglich auch waren?
Bahram blickte zum funkelnden Himmel, einmal mehr auf der Suche nach Antwort – und er erstarrte, als er den Mond gewahrte. Denn es war nicht nur einfach eine helle Scheibe, die dort am Firmament stand, sondern ein riesiges Zeichen, ein Ornament, bestehend aus vier Viertelkreisen in Form von Labyrinthen, die sich zu einem Kreis ergänzten und in der Mitte ein Kreuz bildeten.
Bestürzung erfasste Bahram, dann erst begriff er, dass jener Schlaf, in den er vor Erschöpfung gefallen war, ihn noch immer nicht ganz entlassen hatte.