»Verzeiht, Mutter«, wiederholte er, und anders als vorhin klang es aufrichtig. Er hielt ihrem Blick nicht länger stand und schaute an sich hinab zu Boden.
»Es ist gut, Junge. Ich verstehe deine Ungeduld. Du hast lange gewartet – aber sei versichert, dass die Früchte deiner Geduld nicht mehr fern sind.«
»Wirklich?«, er schaute sie an, nicht als der zum Äußersten entschlossene Anführer, als der er sich in der Bruderschaft gebärdete, sondern als ein zerbrechliches, furchtsames Kind.
»Sei unbesorgt. Alles, was wir gemeinsam geplant haben, ist eingetreten, wenn auch anders, als wir es zunächst vorausgesehen haben. Und die Dinge werden sich auch weiterhin zu unseren Gunsten entwickeln, wenn wir nur geduldig abwarten.«
»Ich bin das Warten leid, Mutter, so unendlich leid. Die Monate verstreichen, und ich fürchte, ich werde nie das sein, was du mir versprochen hast.«
»Du bist der geborene Anführer, Guillaume. In deinen Adern fließt edles Blut, und der Tag wird kommen, an dem du alle anderen an Macht und Einfluss weit übertreffen wirst. Das verspreche ich dir, so wahr ich vor dir stehe.«
»Dafür bin ich Euch dankbar«, versicherte Guillaume, während er ungeduldig von einem Fuß auf den anderen trat. »Aber wie soll das vonstatten gehen, wenn ich nur weiter abwarte? Ihr vergesst wohl, dass ich mein Wort verpfändet habe, den Bruder des Königs …«
»Still doch«, fiel sie ihm ins Wort und brachte ihn mit einer herrischen Geste zum Schweigen. Argwöhnisch blickte sie sich in der geräumigen Kammer um, die sie allein bewohnte – das Bett teilten ihr Gemahl und sie längst nicht mehr. »Bist du von Sinnen, solche Dinge laut auszusprechen?«
»Einmal muss ich sie aussprechen, Mutter«, bekräftigte Guillaume, gleichwohl mit gesenkter Stimme. »Ob laut oder leise, meine Bedenken bleiben. Wir sollten endlich handeln! Warum haltet Ihr mich immer noch zurück? Soll der Baron recht behalten, wenn er mich der Feigheit bezichtigt?«
»Um Renald de Rein brauchst du dich nicht mehr zu scheren. Weder ist er dein leiblicher Vater, noch hat er mehr Macht über dich.«
»Glaubt Ihr das wirklich? Dann verschließt Ihr Eure Augen vor der Wahrheit, Mutter. Denn Euer Gemahl ist dabei, sich wieder jene Position zu erobern, die er auch in England schon hatte. Bereitwillig hat er sich dem Italier Bohemund angedient, bis dieser ihn in den Kreis seiner Ritter aufgenommen hat. Nicht mehr lange, und Renald de Rein wird dem Fürstenrat angehören – und was dann, Mutter? Was, wenn er unsere Pläne verrät?«
»Das wird er nicht, denn dazu ist er selbst viel zu tief darin verstrickt. Was glaubst du, warum er nicht die Nähe Roberts gesucht hat? Wäre es für ihn nicht sehr viel einfacher gewesen, in der Gunst des Herzogs der Normandie aufzusteigen, als in der Herrn Bohemunds? Renald hingegen hat es vorgezogen, möglichst großen Abstand zu Robert zu halten, denn er weiß, dass der Herzog launisch ist und ein Bekanntwerden des Plans mit einiger Wahrscheinlichkeit auch seinen Untergang bedeuten würde.«
Guillaume nickte. Die Argumente seiner Mutter beruhigten sein erregtes Gemüt ein wenig.
»Dennoch solltest du dich nicht mehr mit dem Baron vergleichen«, fügte Eleanor ein wenig sanfter hinzu. »Ich habe dir das Geheimnis deiner Herkunft enthüllt, weil es für dich an der Zeit ist, dich aus seinem Schatten zu lösen. Dir ist eine größere Zukunft bestimmt, als Renald de Reins gehorsamer Sohn zu sein.«
»Das habt Ihr schon so oft gesagt, Mutter«, wandte Guillaume seufzend ein, »und oft genug haben mir Eure Worte Trost geschenkt, aber jetzt nicht mehr. Was für eine Zukunft ist das, von der Ihr immerzu sprecht? Wollt Ihr mir das nicht endlich sagen?«
Aus ihren tief liegenden Augen musterte Eleanor ihn mit einem langen Blick. Schließlich nickte sie. »Vielleicht hast du recht. Vielleicht ist es an der Zeit, dir die wahre Natur meines Plans zu enthüllen und dir zu offenbaren, warum ich jenen frevlerischen Handel mit dem Brandstifter geschlossen habe.«
Guillaume hob die Brauen. Es war das erste Mal, dass er sie mit einer Spur von Geringschätzung über den königlichen Berater sprechen hörte. »Mutter?«, fragte er entsprechend verwundert.
Ein dünnes Lächeln huschte über ihr schädelgleiches Antlitz. »Hast du ernsthaft angenommen, ich würde meinen einzigen Sohn zu des Königs Werkzeug machen, nur damit dieser Früchte ernten kann, die er niemals gesät hat? Mein Vater und mein Bruder, Guillaume, waren dabei, als Herzog William England eroberte. Sie haben mit ihm geblutet und ihm die Treue gehalten, als viele andere von ihm abfielen.«
»Ich weiß, das habt Ihr mir oft genug erzählt. Aber ich verstehe nicht, was Ihr damit sagen wollt.«
»Damit will ich sagen«, erwiderte Eleanor mit einer Stimme, die zu einem heiseren Flüstern verblasst war, »dass unser Anspruch auf Führerschaft nicht mehr und nicht weniger begründet ist als der jeder anderen Adelsfamilie, sei es auf der Insel oder in der Normandie.«
»Mit Ausnahme der des Eroberers«, widersprach Guillaume.
»Das ist wahr«, räumte Eleanor ein und schaute ihm dabei beschwörend in die Augen. »Aber was, wenn Herzog Robert beim Kampf um Jerusalem tatsächlich ein heldenhafter Tod ereilte, sodass seine Besitzungen in der Normandie allesamt an England fielen? Und was, wenn jemand König William Rufus daraufhin zu verstehen gäbe, dass man die Wahrheit über den Tod seines Bruders kenne und sie an den Adel der Normandie verraten wolle. Was dann, Sohn? Was dann?«
Guillaume starrte seine Mutter an, als würde er sie zum ersten Mal in seinem Leben erblicken. Ihr scharfer Verstand, ihr unbedingter Ehrgeiz, ihre gewissenlose Härte, ihr manipulatives Wesen – all das hatte er stets an ihr bewundert. Das wahre Ausmaß ihrer Ruchlosigkeit ging ihm jedoch erst in diesem Augenblick auf.
»Mutter! Du willst den König erpressen?«
»Nein, Guillaume. Wir werden Rufus lediglich die Folgen seines eigenen Handelns vor Augen führen und ihm die freie Wahl darüber lassen, was er daraufhin unternehmen wird.«
»Er wird uns vernichten«, war Guillaume überzeugt.
»Kaum. Denn in diesem Fall würde die Bruderschaft dafür sorgen, dass die Kunde von Rufus’ schmählichem Verrat überall in Frankreich verbreitet wird, und das würde nicht nur das Ende seiner Herrschaftsansprüche besiegeln, sondern auch sein eigenes. Um Schaden von sich abzuhalten, wird Rufus sich also fügen, seiner schwachen Natur entsprechend – und mit Hilfe der Bruderschaft wirst du es sein, der die Herrschaft in den Händen hält.«
»Das ist dein Plan?« Guillaume starrte seine Mutter ungläubig an.
»Es ist nicht nur ein Plan, Guillaume. Vieles, was du getan hast, seit wir England verlassen haben – dein Beitritt zur Bruderschaft, deine Freundschaft zu Eustace und dein damit verbundener Aufstieg –, diente nur dazu, dich auf dieses Vorhaben vorzubereiten. Rufus wird zur bloßen Gestalt verblassen, zu einer Hülle ohne Inhalt, seines Namens nicht mehr wert, und der Adel wird sich von ihm ebenso abwenden wie von seinem Bruder Henry. Und just zu diesem Zeitpunkt, Guillaume, wirst du als strahlender Sieger nach London zurückkehren, ein Held von Jerusalem, in deinen Händen die Heilige Lanze. Wem, glaubst du, wird der Adel wohl in der allgemeinen Begeisterung Treue schwören?«
Guillaume starrte seine Mutter an, die es einmal mehr geschafft hatte, ihn zu überraschen. Trotz der rosigen Zukunft, die sie ihm in Aussicht stellte, blieben jedoch auch Zweifel bestehen. »Ihr seid wunderbar, aber solange die Fürsten sich darüber streiten, wer von ihnen Herrscher über Antiochia werden soll, werden sie den Feldzug nicht fortsetzen. Und was die Lanze betrifft, so ist der Bischof von Le Puy alles andere als überzeugt von ihrer Echtheit – und er ist immerhin der päpstliche Gesandte.«
»Was die Zweifel des widerspenstigen Adhémar angeht, so mach dir keine Sorgen. Ich kenne seine Schwächen gut genug. Nutze die Zeit weiter, um das Umland zu plündern und unsere leeren Kassen aufzufüllen, denn wenn wir nach England zurückzukehren, werden wir entsprechende Mittel brauchen. Sobald wir uns genügend bereichert haben, werden wir uns erneut Bartholomaios’ bedienen, um die Fürsten dazu zu veranlassen, nach Jerusalem zu ziehen.«