»Wozu?«, fragte Conn.
»Willst du behaupten, dir wäre nicht mehr daran gelegen, dich an deinem Erzfeind zu rächen?«
»Nein, das behaupte ich nicht. Aber mir hat die Sache von Anfang an nicht gefallen, und nun, da der Bischof nicht mehr am Leben ist, sehe ich nicht, warum ich mich noch an mein Wort gebunden fühlen sollte.«
»Und die Ritterwürde, die du erlangt hast?«
»Niemand außer Euch weiß davon«, erwiderte Conn kalt. »Und Ihr tätet gut daran, es nicht öffentlich zu machen.«
»Du drohst mir? Nach allem, was ich für dich getan habe?«
»Was auch immer Ihr getan habt, habt Ihr vor allem um Eurer selbst willen getan, Pater, ich schulde Euch also nichts. Oder wollt Ihr das bestreiten?«
Berengar schüttelte das spärlich behaarte Haupt. »Ich leugne nicht, dass ich Fehler gemacht habe und dass es mich nicht nur aus Frömmigkeit, sondern auch aus Neugier dazu drängte, das Geheimnis des Buches zu ergründen. Aber ich habe es nicht nur zu meinem Wohl getan, sondern auch zu deinem, Conn, willst du das nicht einsehen? Warum, glaubst du, habe ich mich bei Bischof Adhémar für dich verwendet?«
»Ganz einfach, weil Ihr jemanden brauchtet, der Euch nach Jerusalem begleitet. Jemanden, den Ihr leicht beeinflussen und kontrollieren könnt. Mit anderen Worten, einen angelsächsischen Narren wie mich.«
»Aber nein, du missverstehst meine …«
»Außerdem wolltet Ihr Euer schlechtes Gewissen mir gegenüber erleichtern. Ihr dachtet, wenn Ihr mich zum Komplizen macht, würde das Eure Schande schmälern. Aber das ist nicht der Fall, Berengar. Der Bischof ist nicht mehr am Leben, und damit betrachte ich auch unsere Abmachung als hinfällig.«
»Conwulf, ich …«
Conn ließ ihn abermals nicht ausreden. Abrupt wandte er sich ab, ging ins Haus zurück und warf die Tür zu. Dann wartete er mit pochendem Herzen, bis die knirschenden Schritte von Berengars Sandalen sich entfernt hatten – und hoffte, dass er die richtige Entscheidung getroffen hatte.
Antiochia
September 1098
»Danke, dass Ihr meiner Einladung gefolgt seid.«
Eustace de Privas fuhr herum. Er hatte erwartet, dass seine Gastgeberin die Halle durch den Vordereingang betreten würde. Stattdessen stand sie plötzlich hinter ihm.
»Mylady.« Der Ritter aus der Provence verbeugte sich. Als er sich wieder erhob, stand die schattengleiche Erscheinung Eleanor de Reins unmittelbar vor ihm.
Eustace verspürte dieselbe Beklemmung, die er auch in Caen empfunden hatte, damals, als Eleanor zu ihm gekommen war und um Aufnahme ihres Sohnes in den Kreis der Bruderschaft gebeten hatte. Aus machtpolitischen Erwägungen hatte Eustace damals zugestimmt, denn Eleanors Familie verfügte in der Normandie über erheblichen Einfluss, und da die Normannen einen nicht unbedeutenden Teil des Heeres stellten, war es überaus wichtig, auch sie in der Bruderschaft vertreten zu wissen. Allerdings hatte Eustace nicht damit gerechnet, dass der anfangs so zurückhaltende und unter seinem strengen Vater leidende Guillaume einst so forsch agieren und sogar versteckte Ansprüche auf die Führung der Bruderschaft erheben würde. Und ihm war klar, dass diese offenkundige Veränderung einen Namen hatte.
Eleanor de Rein.
Es war unbestreitbar, dass die Gattin des Barons de Rein großen Einfluss auf ihren Sohn ausübte, und ganz offenbar schien sie diese Einflussnahme nun auch auf die Bruderschaft ausdehnen zu wollen – doch Eustace war fest entschlossen, jedes Ansinnen in diese Richtung von sich abprallen zu lassen. Er und niemand sonst hatte die Bruderschaft ins Leben gerufen, und er würde sich seinen Führungsanspruch von niemandem streitig machen lassen.
»Sicher fragt Ihr Euch, weshalb ich Euch um dieses Treffen ersucht habe«, ergriff Eleanor wieder das Wort. Ihre hagere Erscheinung und die bleichen, reglosen Züge hatten etwas Furchteinflößendes. Das Gebende um Hals und Kopf, das nur ihr Gesicht frei ließ, verstärkte Eustaces Eindruck, mit einem lebenden Leichnam zu sprechen.
»Das ist wahr, Mylady«, bestätigte er mit einem leisen Schaudern.
»Ich bat Euch, in mein Haus zu kommen, weil ich mit Euch über die Zukunft sprechen möchte.«
»Über die Zukunft?« Eustace hob die Brauen. »Wessen Zukunft, Mylady?«
»Eure Zukunft Und die von Guillaume.«
»Nun«, erwiderte der Provenzale voller Zuversicht, »was meine Zukunft betrifft, so sehe ich sie in einem durchaus günstigen Licht.«
»Das glaube ich Euch gern, Monsieur, aber doch nur, weil der Kampf um Antiochia eine entscheidende Wendung genommen hat. Wäre die Lanze damals nicht gefunden worden, hätten unsere Kämpfer wohl nicht mit derartiger Verbissenheit gegen die Muselmanen gefochten, und wir würden kaum hier stehen, um diese Unterhaltung zu führen.«
»Damit mögt Ihr recht haben. Allerdings weiß ich nicht, warum Ihr diese Dinge erwähnt.«
»Kommt, Eustace. Beleidigt mich nicht, indem Ihr mich wie eine Närrin behandelt. Ich weiß, welche Rolle Eure Bruderschaft beim Fund der Lanze gespielt hat, und ich weiß auch, dass es Guillaume war, der den Ausschlag dazu gegeben hat. Er hat es mir selbst erzählt.« Ein dünnes Lächeln spielte um ihre blutleeren Lippen. »Ein Sohn sollte vor seiner Mutter keine Geheimnisse haben.«
»Auch dann nicht, wenn er einen feierlichen Eid geleistet hat?«, empörte sich Eustace.
»Wollt Ihr behaupten, Ihr hättet noch niemals einen Eid gebrochen?«, fragte Eleanor dagegen und zuckte mit den Achseln, die sich durch das samtene Kleid und den Überwurf abzeichneten. »Schwüre werden jeden Tag geleistet, und je höher jene stehen, die ihr Wort verpfänden, desto häufiger werden sie gebrochen. Statt Guillaume zu zürnen, solltet Ihr Euch glücklich schätzen, dass seine List die entscheidende Wendung brachte – denn wie ich hörte, seid Ihr in jenen Tagen nicht in der Lage gewesen, eine solche herbeizuführen.«
»Das ist wahr«, bekannte Eustace widerwillig. Da Eleanor so umfassend unterrichtet schien, war leugnen wohl sinnlos.
»Seither jedoch ist eine fast verwerflich zu nennende Trägheit unter den Kreuzfahrern eingekehrt. Anstatt zu kämpfen, begnügen sie sich damit, ihre Wunden zu lecken und sich dem Wohlleben hinzugeben, selbst die Prediger sind mancherorts verstummt. Es ist nicht zu übersehen, dass manche Ritter mehr Gefallen daran finden, im Umland auf Raubzug zu gehen und persönlichen Besitz anzuhäufen, als dem ursprünglichem Ziel des Feldzugs zu dienen, nämlich der Eroberung von Jerusalem. Sogar unter den Fürsten scheint Uneinigkeit darüber ausgebrochen zu sein.«
»Auch das ist wahr. Namentlich Bohemund von Tarent wehrt sich dagegen, den Feldzug fortzusetzen …«
»… es sei denn, man würde ihm die Herrschaft über Antiochia übertragen«, fügte Guillaumes Mutter hinzu und bewies damit einmal mehr, wie gut sie informiert war. »Dass er durch seine Selbstsucht das ganze Unternehmen gefährdet, scheint diesem Emporkömmling dabei völlig gleichgültig zu sein.«
»Mylady, offen gestanden wundert es mich, Euch in dieser Art über den Fürsten von Tarent sprechen zu hören. Immerhin ist Euer Gemahl der Baron bekanntermaßen sein ergebener Anhänger.«
Eleanor stellte erneut ihr Totenkopflächeln zur Schau. »Ihr solltet nicht den Fehler machen, mich mit meinem Gemahl gleichzusetzen. Renald mag Gefallen daran finden, sich den Mächtigen anzudienen – mir hingegen erschien es von jeher erfolgversprechender, selbst Macht zu erlangen.«
»Eine Einstellung, die von Ehrgeiz und Weitsicht spricht«, sagte Eustace. Auch wenn Eleanors forsches Auftreten ihn verunsicherte, ja verstörte, kam er nicht umhin, von ihr beeindruckt zu sein. In jungen Jahren, sagte er sich, war sie wohl eine Schönheit gewesen mit ihren stechend grünen Augen und den schmalen, vornehmen Zügen – ehe das Alter oder ihre Erfahrungen sie zu jenem bleichen, an einen Geist gemahnenden Geschöpf hatten werden lassen, als das sie ihm nun gegenüberstand.