»Danke, dass Ihr mich empfangt, Herr«, sagte Berengar unterwürfig. »Möge der Allmächtige es Euch vergelten.«
»Schon gut, Pater«, erwiderte der Graf, der an einem langen Tisch saß und dabei war, sich mit etwas Fleisch und Brot zu stärken. »Was also ist so wichtig, dass Ihr mich unbedingt zu sprechen wünscht? Sagt es mir, aber fasst Euch kurz, denn meine Zeit ist kostbar.«
»Dessen bin ich mir bewusst, Herr«, versicherte der Mönch beflissen und deutete abermals eine Verbeugung an. »Ihr müsst wissen, dass ich ein enger Vertrauter Eures Bruders gewesen bin.«
»Tatsächlich?« Hugo biss von einem Stück Hammelfleisch ab und kaute es geräuschvoll. »Es ist seltsam, wisst Ihr. Seid mein geliebter Bruder nicht mehr unter uns weilt, vergeht kein Tag, an dem nicht irgendwer behauptet, sein Günstling gewesen zu sein. Was wollt Ihr, Mann? Eine Spende für die Armen? Lasst Euch von meinem Kämmerer etwas geben und dann …«
»Mit Verlaub, Sire, das ist es nicht«, fiel Berengar dem Grafen ins Wort. »Vielmehr bin ich hier, um Euch darüber in Kenntnis zu setzen, dass ich von gewissen Dingen weiß.«
Hugo hörte für einen Moment zu kauen auf. »Von was für Dingen?«, fragte er mit vollem Mund.
»Von Dingen, die Euren geliebten Bruder sehr beschäftigt haben und die den Verlauf dieser Unternehmung maßgeblich beeinflussen könnten«, gab der Mönch ausweichend zur Antwort. »Ich bin sicher, Ihr wisst, wovon ich spreche.«
»Nein, das weiß ich nicht.« Hugo schüttelte den Kopf. »Seid Ihr auch recht bei Sinnen, Mann?«
»Durchaus«, versicherte Berengar, dem in diesem Augenblick klar zu werden begann, dass der Graf keine Ahnung hatte, wovon er sprach. Ganz offenbar hatte sich Adhémar von Monteil in dieser so wichtigen Angelegenheit nicht einmal seinem leiblichen Bruder anvertraut.
»Was also wollt Ihr?«, fragte Hugo ungeduldig, während er hastig weiteraß. »Ich rate Euch, meine Zeit nicht zu verschwenden!«
»Es geht um ein Geheimnis«, sagte Berengar schnell, der seine Felle bereits davonschwimmen sah. Wenn es ihm nicht gelang, das Interesse des Grafen zu wecken, würde er sich schneller auf der Straße wiederfinden, als es ihm lieb sein konnte.
»Ein Geheimnis?« Zumindest unterbrach Hugo abermals den Kauvorgang.
»In der Tat, Sire. Etwas, das Eurem Bruder so wichtig war, dass er es mit kaum jemandem teilte.«
»Mein Bruder, Pater, ist nicht mehr am Leben. Seine Feinde haben ihn aller Wahrscheinlichkeit nach vergiftet, und der einzige Grund, dass ich noch unter den Lebenden weile, ist der, dass er mich an jenen Geheimnissen nicht teilhaben ließ. Ich weiß sehr wohl, dass es Dinge gab, die er selbst vor mir verschwiegen hat, und ich nehme an, er hatte gute Gründe dafür. Warum sollte ich etwas daran ändern?«
»Weil, mein Herr, wir in einer besonderen Zeit leben, in einem Jahrhundert, das seinem Ende entgegengeht. Früher, da ich als Prediger durch die Lande zog, da sprach ich vom kommenden Himmelreich Gottes – freilich ohne zu ahnen, dass es schon so nah sein könnte. Ich habe die Zeichen der Natur gesehen und wusste, dass sie etwas Großes bedeuten, umwälzende Veränderungen, aber erst viel später habe ich begriffen, worum es dabei tatsächlich ging.«
»Und das soll mich beruhigen? Ein Mann tut gut daran, den Platz zu kennen, der ihm vom Schicksal zugewiesen wurde, sei er nun Herr oder Knecht. Die Mächtigen mögen Veränderungen nicht, schon gar nicht, wenn sie mit Glaubensdingen einhergehen. Es ist gefährlich, von derlei Dingen zu sprechen, und anders als meinem Bruder fehlt mir dazu der Mut – oder sollte ich von Dummheit sprechen? Ich habe kein Verlangen danach, Besuch von dieser Hexe zu erhalten.«
»Von welcher Hexe?«, fragte Berengar verblüfft.
Hugo de Monteil lächelte schwach. »Wenn Ihr meinen Bruder so gut kanntet, wie Ihr behauptet, dann wisst Ihr, von wem ich spreche. Er hatte Angst vor ihr – vor ihr und diesem Geheimbund, der vorgibt, den heiligen Reliquien nachzuspüren, und im Grunde doch nur den eigenen Vorteil im Sinn hat.«
»Die Bruderschaft der Suchenden«, murmelte der Mönch. »Ihr sprecht von Guillaume de Rein.«
»Nicht von ihm, sondern von seiner Mutter. Weder kann ich es beweisen, noch weiß ich, was genau sie Adhémar angetan hat – aber wenige Tage nachdem sie ihn in seinem Haus besuchte, war er tot.«
»Eleanor de Rein«, flüsterte Berengar betroffen.
»Sie ist es, die in Wahrheit die Geschicke der Bruderschaft lenkt. Solange Ihr keinen Plan habt, wie ihr beizukommen ist, lasst mich in Frieden! Geheimnisse religiöser Natur interessieren mich nicht.«
»Aber …«
»Wachen!«, brüllte der Graf mit lauter Stimme, und die beiden Kämpen, die vor der Tür postiert waren und Berengar schon vorhin so grimmig gemustert hatten, platzten herein. »Hinaus mit ihm«, sagte Hugo nur, und ehe Berengar sich’s versah, hatten die beiden ihn bereits an Kapuze und Leibstrick gepackt und zerrten ihn aus der Halle und hinaus auf die Straße, wo sie ihn mit einem Fußtritt in den Staub beförderten, zur Belustigung zahlreicher Passanten.
Stöhnend richtete sich der Mönch wieder auf, bemüht, einen letzten Rest an Würde zu bewahren. Sein Plan, Bischof Adhémars Bruder ins Vertrauen zu ziehen und ihn für die Suche nach der verschollenen Lade zu gewinnen, war gescheitert – doch gleichzeitig hatte der Graf ihm auch eine neue Lösung aufgezeigt.
Wenn Hugo de Monteil zu ängstlich war, ein Jahrtausende altes Geheimnis zu lüften und seinen Namen ins steinerne Buch der Geschichte zu meißeln, würde Berengar eben die Hilfe von jemand anderem suchen müssen, dem es nicht an Mut und Entschlossenheit fehlte.
Die Lösung, die der Graf unwillentlich vorgeschlagen hatte, trug den Namen einer Frau.
Eleanor de Rein.
15.
Antiochia
30. Dezember 1098
Die schmerzvollen Schreie waren in dem unterirdischen, von Säulen getragenen Gewölbe verhallt, der Geruch von verbranntem Fleisch hatte sich verflüchtigt.
Unbewegt und ohne eine Spur von Mitleid hatte Guillaume de Rein zugesehen, wie fünf neue Mitglieder in die Bruderschaft aufgenommen worden waren. Junge Ritter, denen man wie einst ihm selbst den feierlichen Eid abgenommen hatte, ihr Leben in den Dienst der Suche zu stellen, und denen man anschließend jenes Zeichen in den Unterarm eingebrannt hatte, an dem die Mitglieder der Bruderschaft zu erkennen waren – das Kreuz mit den sich verbreiternden Armen.
Es war nur der Auftakt der großen Zusammenkunft gewesen, zu der sich die führenden Mitglieder der Bruderschaft getroffen hatten, jener nicht unähnlich, die einst in Caen stattgefunden hatte, damals, als Guillaume selbst Zugang zum Kreis der Suchenden erlangt hatte.
Mehr als zwei Jahre lag dies zurück, viel war seither geschehen, manches hatte sich verändert. Zahlreiche Ritter, die damals dabei gewesen waren, so wie Adelard d’Espalion und Huidemar de Mende, waren im Kampf gefallen; andere waren von Seuchen oder erbarmungsloser Hitze dahingerafft worden, wieder andere hatten es vorgezogen, ihre Waffenbrüder im Stich zu lassen und nach Hause zurückzukehren, weil sie der Mut verlassen hatte. An ihre Stelle waren neue Mitglieder getreten, junge Adelige aus Franken, der Normandie und den italischen Gebieten, die infolge der harten Entbehrungen des Feldzugs mittellos geworden waren oder ihren Lehnsherren verloren hatten; die Bruderschaft nahm sie auf und gab ihnen nicht nur Rüstung und Nahrung, sondern auch ein neues Ziel, für das zu streiten sich lohnte.