Nach der askar, die er im Auftrag Duqaqs befehligt hatte, war es für Bahram freilich einem Abstieg gleichgekommen, anstelle der schwer bewaffneten ghulam nun einem Haufen zwar heißblütiger, jedoch völlig unerfahrener junger Männer vorzustehen, die noch nicht einmal die Grundprinzipien des Schwertkampfs beherrschten. Aber er hatte die Aufgabe angenommen, und mit der Zeit war es ihm gelungen, aus dem versprengten Häuflein einen schlagkräftigen Trupp zusammenzustellen, der im Fall eines Angriffs auf die Stadt seinen Mauerabschnitt zuverlässig verteidigen würde. Einer der jungen Männer, ein gewisser Caleb Ben Ezra, tat sich durch ganz besonderen Einsatzwillen hervor, und nachdem er zuletzt gezweifelt hatte, dass dem Vormarsch der Eroberer jemals Einhalt geboten werden konnte, war Bahram nun wieder ein wenig zuversichtlicher geworden.
Die Erinnerungen an die Niederlage von Antiochia und die dunklen Voraussagen des alten Jamal waren im Lauf der vergangenen Monate zusehends verblasst – die Sonnenfinsternis jedoch hatte sie auf einen Schlag wieder zurückgebracht.
Denn selbst wenn man die Vorgänge am Himmel kannte und um ihre Entstehung wusste, konnte kein Zweifel daran bestehen, dass es ein unheilvolles Omen war.
16.
Östlich von Akkar
Mitte April 1099
Die Zeit des Stillstands war vorüber.
Nach langen Monaten des Wartens, in denen sich die Fürsten darin gefallen hatten, sich einerseits erbitterte Machtkämpfe um den Besitz Antiochias zu liefern und sich andererseits durch nicht enden wollende Raubzüge durch das Umland der Stadt zu bereichern, war das Heer der Kreuzfahrer zum Jahreswechsel endlich wieder aufgebrochen.
Mehrere Gründe hatten letztlich dazu geführt, dass die Anführer ihren Starrsinn aufgegeben und sich wieder auf ihre ursprüngliche Mission besonnen hatten: Zum einen hatten sie die Region beinahe leer geplündert, sodass ihnen nichts anderes übrig blieb, als einer Horde Heuschrecken gleich weiterzuziehen, um die Versorgungslage des Heeres nicht abermals zu gefährden; zum anderen hatte die Stimmung unter den einfachen Soldaten dafür gesorgt, dass die hohen Herren ihre Haltung noch einmal überdacht hatten. Der Habgier ihrer Anführer überdrüssig, hatten immer mehr Kämpfer ihren Unmut geäußert und ihn an die Vertreter der Kirche herangetragen, von denen zwar keiner auch nur annähernd über die Macht und den Einfluss eines Adhémar von Monteil verfügte; die ständigen Proteste der Priester jedoch und ihre finsteren Drohungen das Seelenheil betreffend höhlten schließlich den Stein. Lediglich Bohemund von Tarent blieb in Antiochia zurück, nunmehr als unbestrittener Herrscher; die anderen Fürsten jedoch, allen voran Raymond von Toulouse, der sich als Adhémars Nachfolger und legitimer Anführer des Unternehmens sah, verließen nach und nach die Stadt. Als Erste folgten die Normannen von Herzog Robert und die Gefolgsleute des rauflustigen Italiers Tankred dem Aufruf, und schließlich konnten sich auch die Fürsten Lothringens und Flanderns dem Drängen ihrer Heere nicht länger widersetzen.
Auch Guillaume de Rein und die Mitglieder der Bruderschaft hatten nicht unerheblichen Anteil daran, dass das Unternehmen endlich fortgeführt wurde: Unablässig hatten sie bei ihren Lehnsherren interveniert und auf einen baldigen Aufbruch gedrängt, und wann immer sich die Gelegenheit dazu bot, hatte Guillaume nicht gezögert, Seher und Visionäre für seine Zwecke einzusetzen. Allerdings, so hatte er feststellen müssen, verhielt es sich mit Prophezeiungen wie mit einer Klinge, die zu häufig benutzt wurde – sie nutzten sich ab und wurden stumpf.
Mit einer Verwünschung auf den Lippen lenkte Guillaume sein Pferd den schmalen Pfad hinauf, der zum Grat des Hügels führte, gefolgt von einem Trupp seiner Leute. Die Erinnerung an die schaurigen Ereignisse, die sich vor wenigen Tagen im Lager der Kreuzfahrer zugetragen hatten, setzte ihm noch immer zu. Zum einen, weil sein Plan misslungen war. Zum anderen aber auch, weil Eustace de Privas, der seit seiner Absetzung als Anführer der Bruderschaft als Leibwächter Eleanor de Reins fungierte und ihr wie ein Schatten folgte, im Grunde recht behalten hatte.
Genau wie Graf Raymond war auch Guillaume der Ansicht gewesen, dass die Stadt Akkar, die inmitten eines fruchtbaren Küstenstreifens unmittelbar am Meer lag und damit die Nachschublinien nach Europa öffnete, unbedingt erobert werden müsse, ehe man den Zug nach Jerusalem fortsetzen könne, doch die meisten Fürsten des Rates waren anderer Meinung gewesen. Die einen zogen es vor, parallel zur Küste nach Palästina vorzustoßen und die befestigten Städte der Araber – neben Akkar auch Tripolis, Sidon, Tyron und Acre – schlicht zu umgehen. Da dieses Vorgehen bedeutet hätte, in das Gebiet des noch immer mächtigen Emirs von Damaskus einzudringen, und es zudem die Gefahr barg, von allen Nachschubwegen abgeschnitten zu werden, hatte sich Guillaume entschlossen, erneut zu seiner mächtigsten Waffe zu greifen, um die Fürsten umzustimmen.
Den Seher Bartholomaois.
Plötzlich zügelte Guillaume sein Pferd und fuhr im Sattel herum.
»Wer war das?«, fuhr er den Kämpen an, der hinter ihm ritt. Sein Name war Bernier, ein verarmter Ritter aus der Gegend von Castres.
»Was meint Ihr, Herr?«, fragte Bernier und schaute verblüfft unter seinem Nasenschutz hervor.
»Dieser Schrei, dieses Heulen«, beharrte Guillaume ungehalten. »Wer von euch ist das gewesen?«
Schon um dem bohrenden Blick seines Anführers zu entgehen, wandte sich Bernier zu seinem Hintermann um, der die unausgesprochene Frage weitergab. Doch keiner der rund zwanzig Reiter, die dem Trupp angehörten, wusste etwas zu erwidern.
»Ich … ich habe nichts gehört, Herr«, gestand Bernier vorsichtig. »Möglicherweise habt Ihr Euch geirrt?«
Der Blick, der aus Guillaumes grünen Augen stach, war so scharf wie der eines Raubvogels. Prüfend hielt er nach dem Schuldigen Ausschau, bis ihm der Gedanke dämmerte, dass er sich tatsächlich geirrt haben könnte.
»Möglicherweise«, erwiderte er nur, wandte sich wieder nach vorn und gab seinem Pferd die Sporen, um es rasch den steilen Pfad hinaufzutreiben. Seinen Erinnerungen entging er dadurch jedoch nicht.
Mit einer flammenden Ansprache war Peter Bartholomaios vor den Fürstenrat getreten und hatte erklärt, dass der Heiland selbst ihm erschienen sei und die Eroberung Akkars wünsche – doch anders als zuvor in Antiochia zeigten die Fürsten sich unbeeindruckt. Vor allem Robert von der Normandie und dessen Geistlicher Arnulf von Rohes äußerten ihre Zweifel an der Vision, und es half auch nichts, dass Guillaume mit dem Mönch Desiderius einen zweiten Zeugen präsentierte, der vorgab, Bischof Adhémar in der Hölle gesehen zu haben, wo er für seine Zweifel an der Echtheit von Bartholomaios’ Weissagungen ewige Qualen erleide. Ein Gottesurteil wurde anberaumt, dem Bartholomaios sich stellen musste: Gelang es ihm, mit der Heiligen Lanze in der Hand über ein Bett aus glühenden Kohlen zu wandeln, ohne dabei Schaden zu nehmen, galten seine Visionen als bewiesen, und die Fürsten erklärten sich bereit, Raymond unter diesen Voraussetzungen bei der Belagerung Akkars unterstützen zu wollen.
Guillaume nahm nicht an, dass auch nur einer von ihnen daran geglaubt hatte, dass der Seher die Prüfung bestehen könnte – Bartholomaios jedoch war verblendet oder vielleicht auch wahnsinnig genug gewesen, sich auf das Wagnis einzulassen. Mit dem Speer in der Hand schritt er durch die schwelende Glut – und erlitt schwerste Verbrennungen.