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»Verstehst du jetzt, weshalb die Schriftrolle für uns so wichtig ist, Sohn?«, fragte Eleanor, die in ihrem fließenden Gewand einmal mehr wie ein bleicher Todesengel aussah. Eustace hielt sich hinter ihr, wie immer stumm wie ein Schatten, neben ihr stand der Benediktinermönch, die Kapuze seines Gewandes herabgezogen, so als wollte er Guillaume nicht ins Gesicht sehen.

»Ja«, bestätigte er, »ich verstehe es – auch wenn ich es noch immer kaum glauben kann.«

»Es ist die Wahrheit, Herr«, versicherte Berengar. »Die Lade des Bundes ist in Jerusalem – und demjenigen, der sie findet, winkt reicher Lohn.«

Guillaume nickte. Obwohl er nicht daran glaubte, dass jenem Gegenstand göttliche Kräfte innewohnten, zweifelte er nicht daran, dass die Macht, die von ihm ausging, groß, ja beinahe unermesslich war. Antiochia hatte gezeigt, welche Euphorie der Fund eines einzelnen Speers auszulösen vermochte – um wie vieles mehr würden die Kreuzfahrer da auf eine Reliquie reagieren, die doch um so vieles größer und eindrucksvoller war? Demjenigen, der sie recht für sich einzusetzen wusste, würde die Lade neue Wege öffnen.

Den Weg nach Jerusalem.

Den Weg zur Macht.

Den Weg zum Thron.

Seine Mutter ergiff das Wort. »Du kannst diesen Lohn erlangen, aber der Kampf um die Lade ist noch nicht entschieden.«

»Weshalb erfahre ich erst jetzt davon? Wenn ich es recht verstehe, hat Berengar den Text doch schon vor Monaten übersetzt.«

»Es gab noch einige Rätsel zu klären«, antwortete der Mönch.

»Und nun wurde Euch die Schriftrolle gestohlen, und Ihr erwartet, dass ich sie zurückhole?«

»Es ist nur zu deinem eigenen Nutzen, mein über alles geliebter Sohn«, sagte Eleanor. Ihre Knochenhand berührte ihn sanft an der Schulter. »Bedenke, was geschehen würde, wenn die Lade in falsche Hände fiele.«

Guillaume riss sich von ihr los. Mit hängenden Schultern wie ein Wolf auf der Pirsch ging er auf und ab. »Ihr hättet mich bereits früher über diese Dinge in Kenntnis setzen sollen«, tadelte er. Seine erste Euphorie war bereits verflogen.

»Gewiss, Herr«, erklärte Berengar beflissen. »Aber bitte bedenkt, dass wir nur Euer Bestes im Sinn hatten. Zudem war es mir über all die Zeit hinweg gelungen, das Buch von Ascalon sicher aufzubewahren …«

»… bis dieser verdammte Angelsachse kam und es dir gestohlen hat«, vervollständigte Guillaume schnaubend. Er hob die Hand und betrachtete den Rubinring an seinem Finger. »Dabei wähnte ich diesen nichtswürdigen Crétin bereits unter den Toten.«

»Nein, Herr. Conwulf ist nicht tot, sondern höchst lebendig. Und ich fürchte, dass er sich zu nehmen gedenkt, was Eure Mutter Euch zugedacht hat.«

»Ursprünglich wollten wir bis zur Eroberung von Jerusalem warten und dann nach der Lade suchen«, fügte Eleanor hinzu. »Berengar glaubt herausgefunden zu haben, dass sie sich tief unter dem Tempelberg befindet, in einer unterirdischen Kaverne, deren Zugang eine alte Zisterne bildet.«

»Warum suchen wir diese Kaverne dann nicht einfach auf und holen uns, was uns zusteht?«, fragte Guillaume unwirsch.

»Weil, Herr, der Preis nur von dem errungen werden kann, der das Buch sein Eigen nennt«, antwortete Berengar. »Darin verborgen sind Hinweise, die den Weg zu jener Kammer offenbaren, in der die Lade verborgen ist. Das Buch von Ascalon ist der Schlüssel – ohne ihn kann sie nicht gefunden werden.«

»Dann werde ich das Buch wiederbeschaffen«, knurrte Guillaume entschlossen. »Wohin, sagst du, hat sich der Angelsachse gewandt?«

»Nun, Conwulf brauch jemanden, der das Buch für ihn übersetzt und ihm die Rätsel erschließt, die den Weg zur Lade weisen. Deshalb nehme ich an, dass er die Jüdin aufsuchen wird, in deren Besitz sich das Buch von Ascalon früher befand.«

»Wo ist diese Jüdin?«

»In Acre, Herr. Aber ihren genauen Aufenthalt kenne ich nicht.«

Guillaume blieb stehen. Er hatte das Gefühl gehabt, einen Anflug von Zögern bei dem Benediktiner zu bemerken. »Und? Gibt es jemanden, der ihren Aufenthaltsort kennt?«

»Baldric, Conwulfs Adoptivvater«, antwortete Berengar. »Er war es, der die Jüdin damals nach Acre gebracht hat.«

»Und?«

»Ich habe ihn mehrmals danach gefragt, aber er will es mir nicht sagen«, erwiderte der Mönch mit einer Naivität, die Guillaume beinahe rührte.

»Sei unbesorgt. Ich verfüge über Mittel und Wege, widerspenstige Zungen zu lösen. Ich will diese Jüdin. Und ich will Conwulf. Und ich will diese verdammte Schriftrolle zurück. Die beiden werden es bitter bereuen, sich mit mir angelegt zu haben.«

Der Kapuze wegen konnte er nur die untere Hälfte von Berengars Gesicht sehen, aber auch so war zu erkennen, dass der Benediktiner sich verkrampfte.

»Was ist mit dir? Gefällt dir nicht, was ich sage?«

Der Mönch zögerte nur einen winzigen Augenblick.

»Doch, Herr, natürlich«, versicherte er dann.

18.

Acre

Mitte Mai 1099

»Und du bist sicher, dass du das wirklich tun willst?«

Baldrics Frage geisterte Conn noch immer durch den Kopf – wohl deshalb, weil er auch jetzt noch keine Antwort darauf hatte. Gewiss, er hatte erwidert, dass seine Entscheidung unverrückbar feststehe und er aus tiefster Überzeugung handle. Doch als die Türme von Acre vor ihm auftauchten, wurde ihm klar, dass das eine Lüge gewesen war.

Er war sich nicht sicher.

Wie sollte er auch?

Weder wusste er, was ihn jenseits der grauen Mauern erwartete, die sich in einem weiten Halbkreis an die tiefblaue See schmiegten, noch ob er jemals zurückkehren würde.

»Bei allen Mächten des Himmels, Conwulf! Weißt du das alles mit Bestimmtheit?«

Conn hatte das Schweigen nicht länger ertragen. Die Enthüllung, dass sich der verräterische Berengar mit den de Reins verbündet hatte, hatte sein Wissen von einem Augenblick zum anderen zur Last werden lassen, und er hatte das dringende Bedürfnis verspürt, es mit jemandem zu teilen. Folglich hatte er Baldric und Bertrand die Wahrheit über das Buch von Ascalon berichtet, freilich ohne zu ahnen, wie sie darauf reagieren würden.

Mit wachsendem Unglauben hatten die beiden Normannen seinem Bericht gelauscht, bis hin zu jener bestürzenden Enthüllung, die das Geheimnis der Schriftrolle betraf. Das eine Auge vor Staunen weit aufgerissen, hatte sich Baldric bekreuzigt.

»Wundersame Dinge geschehen in diesen Tagen«, hatte er gesagt.

»Du schenkst meinen Worten Glauben?«, hatte Conn gefragt. »Zweifelst du denn gar nicht?«

»Warum sollte ich, Conwulf? Von dem Augenblick an, da ich dich zum ersten Mal erblickte, verletzt und reglos im Schlamm liegend, da war mir klar, dass mir der Herr etwas sagen wollte, indem er dich sandte. Und in der Zeit, die seither verstrichen ist, ist mir eines offenbar geworden, mein Junge – dass du eine wichtige Rolle in der Vorsehung des Allmächtigen spielst, sonst wärst du dem Tode nicht so oft entronnen. Wie häufig schon hätte der Herr dich in seiner Weisheit zu sich rufen können, aber er hat es nicht getan. Warum wohl? Hast du dir diese Frage jemals gestellt?«

Conn hatte sich diese Frage gestellt, und nicht nur einmal. Aber bis auf die wenigen Male, in denen er das Gefühl gehabt hatte, Teil eines großen Ganzen zu sein, war es ihm stets so vorgekommen, als ob sich Gott einen Scherz mit ihm erlaube und das Schicksal Freude daran fände, ihm all das zu nehmen, was ihm lieb und teuer war.

Dass all dies einem höheren Ziel dienen könnte, hatte er nicht zu hoffen gewagt – aber was, wenn Baldric recht hatte? Wenn sich Gottes Walten tatsächlich in jenem Gegenstand widerspiegelte, der aus dem Dunkel der Zeit wieder aufgetaucht war? Und wenn es Conns Schicksal war, danach zu suchen und ihn zu finden?