»Die Folter ist ein Schwert mit zwei Schneiden, Herr. Sie vermag Münder zu öffnen, doch nicht die Lüge von der Wahrheit zu unterscheiden.«
Al-Kubh lächelte matt. »Ihr denkt, der Franke könnte möglicherweise alles gestehen, nur um von den Qualen erlöst zu werden.«
»Ja, Herr – und er ist ein Engländer. Kein Franke.«
»Ein Engländer.« Der qa’id ging zu dem schmalen Fenster, durch das man auf das von zwei mächtigen Türmen bewachte Hafenbecken blickte. Nur wenige Schiffe lagen vor Anker, die meisten aus Ägypten. Aus dem Norden trafen in diesen Tagen nur noch wenige Segler ein. Der Krieg, der dort tobte, begann sich bemerkbar zu machen. »Ich verstehe nicht, was diese Menschen antreibt, Hauptmann. Wieso haben sie Boote bestiegen, um so fern von ihrer kalten Heimat Krieg
zu führen?«
»Ich weiß es nicht.«
»Ich hatte gehofft, von diesem … diesem Engländer ein paar Antworten zu erhalten, die ich dem Wesir weitergeben kann. Anfangs hat niemand von uns diese Kreuzfahrer als Bedrohung erachtet. Die Berater des Kalifen waren sogar der Ansicht, dass sie angesichts der Bedrohung durch die Seldschuken eher unsere Verbündeten wären als unsere Feinde. Seit Antiochia jedoch dürfte auch der letzte von des Kalifen kurzsichtigen Beratern erkannt haben, dass diese Christen sehr wohl eine Bedrohung darstellen, nicht nur für die Türken, sondern für das gesamte Morgenland. Und über diese Bedrohung muss ich mehr in Erfahrung bringen, wenn ich diese Stadt wirksam verteidigen soll.«
»Auch ich würde das gerne, Herr, aber ich fürchte, der Engländer kann uns nichts darüber sagen.«
»Warum ist er dann nach Acre gekommen?«
»Das will er nicht verraten. Er sagt, dass ihn ein Versprechen bindet. Ich vermute, dass es mit jener Schriftrolle zusammenhängt, die er unter seinem Gewand verbarg. Ein Pergament, in der alten Sprache der Juden verfasst.«
»Wie ist sein Name? Hat er den wenigstens preisgegeben?«
»Conwulf, Herr. Der Sohn eines Mannes, der sich Baldric nennt.«
»Conwulf. Baldric.« Der qa’id kaute die Namen wie eine getrocknete Feige. »Seltsame Namen für seltsame Menschen.«
»In der Tat. Soll ich den Gefangenen frei lassen? Wir könnten versuchen, ein Lösegeld zu verlangen, aber er scheint mir nicht wohlhabend zu sein, also …«
»Nein«, lehnte al-Kubh ab. Unter muslimischen Gegnern war es von alters her üblich, Gefangene gegen Zahlung einer Gebühr wieder auf freien Fuß zu setzen. »Keine Freilassung. Der Engländer bleibt im Kerker. Sollte seinesgleichen tatsächlich vor unseren Mauern auftauchen und Einlass begehren, kann er uns vielleicht von Nutzen sein, sei es als Übersetzer oder als Geisel.«
»Aber Herr, ich sagte Euch doch schon, dass er weder etwas weiß noch von hoher Herkunft …«
»Weshalb setzt Ihr Euch so für den Engländer ein, al-Armeni?«
Ein scharfer Unterton hatte sich plötzlich in den Tonfall des Garnisonskommandanten gemischt – und Bahram wusste, dass er vorsichtig sein musste. Er konnte selbst nicht sagen, weshalb das Schicksal dieses fremden Kriegers ihn überhaupt berührte.
Vielleicht lag es an dem Medaillon, das der Fremde bei sich trug und das Bahram auf verblüffende Weise an den Traum erinnerte, den er auf dem Weg nach Acre gehabt hatte.
Vielleicht war es aber auch nur deshalb, weil ein Gefühl ihm sagte, dass jener Conwulf kein verschlagener Räuber, sondern ein Mann von Ehre war. Was auch immer ihn nach Acre geführt hatte, der Krieg war es nicht gewesen, da war sich Bahram sicher – doch al-Kubhs verfinsterte Züge sagten ihm, dass es besser war, diesen Gedanken nicht laut zu äußern.
»Wie Ihr befehlt, Herr«, sagte er stattdessen, verbeugte sich und verließ das Amtszimmer seines Vorgesetzten.
An der Tür wartete Caleb Ben Ezra auf ihn, sein Unterführer bei der jüdischen Miliz, der jedes Wort des Gesprächs mitgehört hatte.
21.
Jüdisches Viertel, Acre
20. Mai 1099
»Was?« Chaya, die in ihrer Kammer auf einem Schemel kauerte und ihr Kind im Arm hielt, schaute zweifelnd zu ihrem Cousin auf. »Aber du hast gesagt, Conwulf sei entkommen!«
»Das habe ich«, räumte Caleb widerstrebend ein. »Ich wollte nicht, dass du dich um ihn sorgst.«
»Wie kommst du zu so einer Annahme?«
»Ich dachte, dass dir nichts mehr an ihm liegt nach allem, was er getan hat«, fuhr ihr Cousin nicht ohne Bitterkeit in der Stimme fort.
»Was ich persönlich empfinde, ist nicht mehr von Belang, Caleb«, wies Chaya ihn zurecht, um Fassung bemüht. »Conwulf hat mich verraten und bestohlen, hat mich und unser ganzes Volk hintergangen – wie könnte ich ihm da jemals verzeihen? Was immer auch mit ihm geschieht, es muss wohl geschehen.«
»Da bin ich mir nicht sicher«, sagte Caleb leise.
»Was meinst du damit?«
»Ich war dabei, als Hauptmann Bahram dem Kommandanten Bericht erstattete. Er sagte, dass Conwulf gefoltert worden sei.«
»Gefoltert«, murmelte Chaya. Die Vorstellung ließ sie erschaudern, aber sie wehrte sich mit aller Macht dagegen, Mitleid zu empfinden.
»… und dass er auch unter Folterqualen sein Schweigen nicht gebrochen habe«, fuhr Caleb fort.
»Er hat ihnen nichts gesagt?«, fragte Chaya nach. »Nichts über das Buch von Ascalon? Über Aron habrit?«
»Nein.« Caleb schüttelte den Kopf.
Chaya überlegte. »Dann ist es ihm womöglich ernst gewesen. Er wollte das Geheimnis tatsächlich bewahren.«
»So ist es wohl. Und es gibt sogar einen Beweis dafür.«
»Welcher Art?«
»Das Buch von Ascalon. Ich hörte Hauptmann Bahram davon sprechen. Der Christ trug die Schriftrolle bei sich, als er zu uns kam. Ganz offenbar wollte er dich entscheiden lassen, was damit zu geschehen hat.«
»I-ist ist das wahr?«
Caleb nickte widerstrebend.
»Dann hat Conn also die Wahrheit gesagt«, folgerte Chaya, ihre Stimme matt und tonlos vor Entsetzen. »Er wollte mich nicht auf die Seite der Kreuzfahrer ziehen, sondern mir die Wahl überlassen. Als Beweis hatte er das Buch von Ascalon dabei – doch wir haben über ihn geurteilt, noch ehe er sich erklären konnte, und ihm schreckliches Unrecht zugefügt.«
Unbewegt saß sie da, das Kind in den Armen, und wog ihre Möglichkeiten ab. Dann erhob sie sich in einem jähen Entschluss.
»Nimm«, sagte sie und hielt Caleb das Kind mit derartiger Bestimmtheit hin, dass er nicht anders konnte, als es verdutzt entgegenzunehmen.
»Was hast du vor?«
»Ich werde mit Hauptmann Bahram sprechen.«
»Und was willst du ihm sagen?«
»Das weiß ich noch nicht.« Chaya schüttelte den Kopf. »Aber ich muss Conn helfen. Es ist unsere Schuld, dass er im Gefängnis ist.«
»Wie willst du das anstellen?«, fragte Caleb ein wenig zu laut. Der Junge auf seinem Arm begann daraufhin zu weinen, sodass er er ihn unbeholfen hin und her wiegte – ohne Erfolg.
»Auch das weiß ich nicht, aber mir bleibt keine andere Wahl, als es zu versuchen. Conn hat unser Leben gerettet, nun retten wir seines.«
»Nein, das müssen wir nicht. Die Christen haben uns mehr Leid zugefügt, als einer von ihnen jemals gutmachen kann. Wir sind ihm nichts schuldig.«
»Würdest du wirklich so denken, dann hättest du mir nicht erzählt, dass Conn noch in der Stadt ist«, erwiderte Chaya lächelnd. »Aber du hast es getan, Caleb, weil du weißt, was richtig ist und was falsch. Ich muss gehen und versuchen, Conn zu helfen. Eine andere Wahl habe ich nicht – und du auch nicht.«
Calebs Mund wurde zu einem dünnen Strich, seine Kieferknochen mahlten. Dann ließ er resignierend den Kopf sinken.