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Durch Caleb hatte Chaya schon viel von Bahram al-Armeni gehört, dem Hauptmann, der aus dem fernen Tal Bashir stammte und seinem christlichen Glauben zum Trotz einen Offiziersrang in der Armee des Kalifats bekleidete, und sie war der Ansicht gewesen, dass Calebs überaus wohlwollende Beschreibung des Armeniers der naiven Schwärmerei zuzuschreiben war, die ihr Cousin für das Soldatentum hegte. In diesem Augenblick jedoch stand sie Bahram zum ersten Mal von Angesicht zu Angesicht gegenüber, und sie kam nicht umhin, beeindruckt zu sein: Die feingeschnittenen Gesichtszüge, die intelligenten Augen und die Tatsache, dass sie ihn beim Lesen eines Buches angetroffen hatte, ließen sie hoffen, dass der armenische Hauptmann kein brutaler Schlächter war.

»Ihr braucht mir nicht zu danken«, antwortete Bahram mit einer Sanftheit, die Chayas Eindrücke zu bestätigen schien. Er bediente sich des Aramäischen, das dem Gemeinhebräisch zumindest so verwandt war, dass eine Verständigung ohne Übersetzer möglich war. »Euer Ehemann, mein Unterführer Caleb Ben Ezra, sagte mir, dass Ihr mich in einer dringenden Angelegenheit zu sprechen wünscht. Einer Angelegenheit, die den gefangenen Engländer betrifft.«

Chaya nickte. »Ja, Herr.«

»Caleb sagte mir, dass Ihr den Engländer kennt?«

»Auch das ist wahr.«

»Nun?«, fragte er und schaute sie abermals prüfend an. »Worum also geht es dabei?«

»Um die Schriftrolle, Herr«, erwiderte Chaya leise. »Die Schriftrolle, die der Engländer Conwulf bei sich trug.«

Die dunklen, aufmerksam blickenden Augen des Hauptmanns verengten sich. »Woher wisst Ihr davon?«

»Ich weiß es, weil er auf dem Weg zu mir war. Er hatte vor, diese Schriftrolle an mich zu übergeben.«

»An Euch? Weshalb?«

»Weil sie sich zuvor in meinem Besitz befand, Herr. Die Schriftrolle wurde mir gestohlen, und Conwulf wollte sie mir zurückbringen.«

»Das ist alles?«

»So ist es. Conwulf ist kein Spion. Er ist aus anderen Gründen nach Acre gekommen. Er hat sich aus freien Stücken in Gefahr begeben, um ein begangenes Unrecht wiedergutzumachen.«

»Wenn es so war, wie Ihr sagt, weshalb habt Ihr dann die Wache gerufen?«

»Nicht ich rief nach der Wache, Herr, sondern mein Ehemann«, verbesserte Chaya und senkte schuldbewusst den Blick. »Er hat die Situation missverstanden.«

»Das kann ich ihm nicht verdenken«, brummte der Armenier. »Was würde ich wohl denken, wenn ich einen fremden Mann im Gemach meiner Ehefrau vorfinden würde?«

»Wie ich schon sagte, Herr – es war ein Missverständnis. Conwulf musste fliehen und wurde verhaftet, noch ehe wir es aufklären konnten. Und da ich bislang nicht wusste, dass er sich in Eurem Gewahrsam befindet, komme ich erst jetzt zu Euch, um Euch um Nachsicht und um Conwulfs Freilassung zu bitten.«

»Ich verstehe. Bedauerlicherweise habe ich darüber nicht zu entscheiden. Der qa’id ist unverrückbar der Ansicht, dass der Engländer ein Spion des Feindes ist, der unsere Verteidigung auskundschaften soll. Und da Conwulf beharrlich schweigt, was die Gründe seines Hierseins angeht, kann ich das Gegenteil nicht beweisen.«

»Conwulf schweigt meinetwegen, Herr. Um mich und mein Kind zu schützen.«

»Das wäre allerdings sehr edelmütig von ihm. Denn es bedarf eines starken Willens, den Qualen der Folter zu widerstehen.«

»Was habt Ihr ihm angetan?«, fragte Chaya. Der Gedanke war ihr unerträglich.

»Seid unbesorgt, der Engländer wird keine dauerhaften Schäden davontragen. Sorgen sollte sich nach allem, was ich in Euren Augen sehe, wohl eher Euer Ehemann.«

Chaya senkte beschämt den Blick. Fast wünschte sie sich, lieber doch einen tumben Schlächter vor sich zu haben anstelle des scharfsinnigen Beobachters, der Bahram war. Seinen wachen Augen schien so leicht nichts zu entgehen, mehr noch, sie konnten offenbar ins Innere eines Menschen blicken.

»Was ich getan habe und was nicht, muss ich vor Gott rechtfertigen«, sagte sie leise und mit noch immer gesenktem Antlitz. »Ich bitte Euch, mich nicht danach zu beurteilen, sondern nach der Wahrheit, die ich Euch bringe.«

»Und was für eine Wahrheit ist das, Chaya?«, verlangte Bahram zu wissen. »Ihr wollt den Engländer entlasten, aber bislang habt Ihr keinen Beweis für seine Unschuld vorgelegt. Im Gegenteil scheint Ihr sehr viel mehr zu wissen, als Ihr mir offenbaren wollt.«

»Nein«, sagte Chaya schnell und schaute auf. Ihr Blick nahm einen flehenden Ausdruck an. »Bitte denkt das nicht von mir, Herr. Ich bin hier um Conwulfs willen. Er hat sein Leben für mich eingesetzt, und ich würde alles tun, um das seine zu retten.«

»Alles?«, hakte Bahram nach.

Chaya war bewusst, dass sie sich auf gefährlichen Boden begab. Dennoch tat sie den nächsten Schritt. »Ja, Herr.«

»Dann sagt mir, was es mit jener Schriftrolle auf sich hat.«

»Das kann ich nicht.«

Der Hauptmann nickte. »Ich habe keine andere Antwort erwartet – aber glaubt Ihr im Ernst, Ihr könntet Conwulfs Freilassung erwirken, wenn Ihr noch nicht einmal die Wahrheit sagen wollt?«

»Ich sage die Wahrheit, Herr.«

»Aber nicht die ganze«, schnaubte der Armenier, und erstmals klang er unwirsch dabei. »Obwohl der Engländer Conwulf jene Schrift bei sich trug und sie sich also in seinem Besitz befand, wollte er selbst unter Anwendung der Folter kein Wort darüber verlieren. Und obschon es um das Leben eines Mannes geht, an dem Euch mehr gelegen scheint, als es sich für eine verheiratete Frau schickt, wollt auch Ihr Euer Schweigen nicht brechen. Was also, frage ich mich, hat es mit jenem Pergament auf sich?«

»Nichts, was Euch bedrohen würde, Herr«, versicherte Chaya.

»Das nehme ich auch nicht an, andernfalls hätte ich nicht angeordnet, die Folter auszusetzen. Aber wenn ich mich für die Freilassung des Engländers einsetzen soll, dann verlange ich Klarheit.«

»Das verstehe ich, Herr«, antwortete Chaya, während in ihrer Brust zwei Löwen miteinander rangen. Der eine Löwe war die Zuneigung zu ihrem Vater und das Pflichtgefühl ihrem Volk gegenüber – der andere war ihre Liebe zu Conn, derer sie sich in diesem Augenblick in vollem Umfang bewusst wurde.

»Der Text ist in hebräischer Sprache verfasst«, fasste Bahram zu Chayas Verblüffung das zusammen, was er über die Schriftrolle herausgefunden hatte, »und soweit ich es beurteilen kann, hat er verschiedene Verfasser.«

»Das habt Ihr erkannt?«

Bahram nickte. »Aber meine Kenntnisse reichen nicht aus, um das Buch in voller Länge zu übersetzen, geschweige denn, um seinen Inhalt zu verstehen. Dennoch ist mir offenbar geworden, dass es sich nicht um eine beliebige Abfassung handelt, sondern um einen Text von höherer Bedeutung. Und die Tatsache, dass der Kreuzfahrer den weiten und gefahrvollen Weg auf sich genommen hat, um ihn Euch zurückzubringen, bestärkt mich in dieser Ansicht.«

Chaya hatte sich nicht in Bahram geirrt. Der Hauptmann war tatsächlich jener scharfsinnige Geist, den sie vom ersten Augenblick an in ihm vermutet hatte. Und er war bei Weitem nicht so ahnungslos, wie sie gehofft hatte.

»Habt Ihr dem qa’ib von Euren Vermutungen berichtet?«, fragte sie vorsichtig.

»Nein, schon weil ich mir nicht sicher war. Aber Ihr könnt meine Zweifel ausräumen. Worum geht es in diesem Text, der Euch so viel zu bedeuten scheint?«

»Wenn ich Euch das sagte, würde ich das Erbe meines Vaters verraten, der mir dies Schriftstück übergab.«

»Und tut Ihr es nicht, verratet Ihr den Mann, der Euch so sehr liebt, dass er sein Leben wagt, um Euer Geheimnis zu wahren.«

Chaya schwieg. Ihre Gedanken gingen zurück nach Köln, von wo aus ihr Vater und sie aufgebrochen waren, und sie folgten der langen Reise, die sie auf sich genommen hatten, mit all ihren Verzögerungen und Gefahren. Ihr Ziel war es gewesen, das Buch von Ascalon sicher an die Stätte seines Ursprungs zu bringen, doch die Mission war gescheitert. Durch Chayas Unachtsamkeit war das Buch verloren gegangen, Conns Edelmut und sein Sinn für Gerechtigkeit hatten es zurückgebracht. Beider Schicksale schienen untrennbar miteinander verbunden zu sein, wie also sollte sie entscheiden, wem ihre Treue galt? Machte es letztlich überhaupt einen Unterschied? Musste Chaya Bahram das Geheimnis nicht offenbaren, wenn sie hoffen wollte, jemals wieder in den Besitz des Buches zu gelangen?