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Für einen Moment mussten ihm dabei die Augen zugefallen sein, denn als er sie wieder öffnete, war er nicht mehr allein.

Eine schlanke Gestalt, von der er im Zwielicht nur die Silhouette sehen konnte, stand vor ihm. Er erschrak und fuhr in die Höhe, was ihn vor Schmerz beinahe laut aufschreien ließ. Aber dann erkannte er Chaya.

Er hatte sie seit dem Kampf nicht mehr gesehen. Der Herzog und seine Leute hatten ihn in Beschlag genommen und ihn über alles ausgefragt, was er über das Mordkomplott wusste – nun, da die Wahrheit seiner Worte bewiesen war, schenkte man ihm uneingeschränkt Glauben. Chaya jedoch war er nicht mehr begegnet. Er hatte ihr nicht sagen können, wie sehr er bedauerte, was geschehen war, noch was er für sie empfand – bis zu diesem Augenblick.

»Chaya, ich bin froh, dass es dir …«

Sie ließ ihn nicht ausreden, sondern legte einen Finger vor den Mund und bedeutete ihm zu schweigen. Dann löste sie die Spange, die ihr schwarzes Haar zusammenhielt, und öffnete die Verschnürung ihres baumwollenen Kleides. Conn blieb vor Staunen der Mund offen stehen.

Im Gegenlicht des vielfachen Feuerscheins konnte er sehen, wie ihre schlanken Hände den Saum des Übergewandes rafften und es nach oben zogen, über ihren Kopf. Ihr Haar geriet dadurch in Unordnung, was sie in seinen Augen nur noch schöner aussehen ließ. Ihm wurde klar, weshalb sie gekommen war, aber der Gedanke, in seinem Zustand mit einer Frau zusammen zu sein, erschreckte ihn eher, als dass er ihn erregt hätte.

»Chaya«, begann er erneut, »ich …« – doch sie hatte bereits ihr Untergewand abgelegt. Sie ließ sich zu ihm herab und schlug die Decke beiseite, unter der er ebenso nackt war wie sie, und lächelte, als sie seine Männlichkeit in nicht weniger erschöpftem Zustand vorfand als ihn selbst. Kurzerhand schlüpfte sie zu ihm unter die Decke und schmiegte ihren Körper an den seinen.

Dann kam sie über ihn, sanft wie der warme Wüstenwind.

26.

Acre

Am nächsten Tag

Obwohl er kaum Gelegenheit gehabt hatte, sich von den Nachwirkungen des Kampfes zu erholen, verließ Conn das Lager der Kreuzfahrer schon am nächsten Morgen.

Die Zeit drängte, denn noch am Tag der Entscheidung hatten die Streiter Christi ihren Posten in den Bergen aufgegeben und sich auf den Weg nach Süden gemacht. Da es danach aussah, als würden sie Acre belagern wollen, um sich einen Zugang zum Meer zu erzwingen, war höchste Eile geboten, wenn Conn seinen Adoptivvater aus der Gewalt der Muselmanen befreien wollte.

Zwar fürchtete er nicht um Baldrics Sicherheit, denn Hauptmann Bahram hatte sein Wort gegeben, und Conn glaubte fest daran, dass der Offizier ein Mann von Ehre war; aber wer vermochte zu sagen, was mit einem gefangenen Christen geschehen würde, wenn seinesgleichen die Stadt angriff?

Als Chaya und er nach Acre zurückkehrten, trafen sie die Garnison in heller Aufregung an. Die Kundschafter der Fatimiden hatten vom Herannahen des Kreuzfahrerheeres berichtet, und die Verteidigungsvorbereitungen waren nochmals verstärkt worden. Über den Wehrgängen wurden hölzerne Dächer angebracht und mit Tierhäuten bespannt, die vor den Pfeilen der Angreifer schützen sollten; die äußeren Mauern wurden mit großen Säcken gepolstert, die mit Reisig und Stroh gestopft waren und verhindern sollten, dass Katapultgeschosse die Mauern beschädigten. In den Straßen herrschte lärmendes Durcheinander. Karren, die Holz, Steine und anderes Baumaterial transportierten, drängten sich eng aneinander. Wenn es tatsächlich zum Kampf um Acre kommen sollte, so würde es eine erbitterte Auseinandersetzung werden, und Conn spürte tief in seinem Inneren, dass er des Kämpfens müde war.

Mit dem Tode Guillaume de Reins war etwas in ihm erloschen, eine Flamme, die bis dahin stetig Nahrung erhalten hatte. Er empfand weder Genugtuung noch Freude über das Ende seines Erzfeindes, aber der Grund, weshalb er all die Strapazen auf sich genommen und allen Widrigkeiten zum Trotz am Leben geblieben war, existierte nicht mehr. Seine Rache war vollzogen, Chaya aus Guillaumes Händen befreit worden, der Herzog der Normandie gerettet. Nur eines war ihm nicht geglückt – das Buch von Ascalon zurückzubringen, für das Baldric sein Leben verpfändet hatte.

»Die Schriftrolle ist fort?« Caleb, der bei Hauptmann Bahram stand und sich einmal mehr als Übersetzer betätigte, zog ungläubig die Brauen nach oben. »Erkläre das! Was soll das heißen, sie ist fort?«

»Ich habe es euch bereits berichtet«, erwiderte Conn, der zusammen mit Chaya ins Wachlokal gekommen war. Seine Cousine hatte Caleb mit einer innigen Umarmung und einem Kuss auf die Stirn begrüßt – für Conn hatte er nur ein knappes Nicken übrig gehabt. »Als Graf Hugos Leute Guillaume de Rein verhafteten und der Tumult ausbrach, war die Schriftrolle plötzlich verschwunden – und Berengar mit ihr.«

»Berengar, schon wieder dieser Teufel!«, fluchte Caleb mit vor Abscheu verzerrten Zügen.

»Ob Engel oder Teufel, ist in diesem Fall schwer zu sagen. Denn ohne Berengars Hilfe wären weder Chaya noch ich de Rein und seinen Schergen entkommen.«

»Ohne sein Zutun wärt ihr gar nicht erst in de Reins Gewalt gelangt.« Caleb lachte bitter. »Wenn du ihn zu verteidigen suchst, bist du entweder ein Träumer, Christ, oder steckst mit ihm unter einer Decke.«

»Du redest Unsinn, Caleb«, wandte Chaya ein. »Wäre es Conn darum gegangen, das Buch zu behalten, hätte er es nicht nach Acre zu bringen brauchen. Was geschehen ist, ist unsere Schuld, nicht seine.«

Caleb holte tief Luft, eine Antwort blieb er jedoch schuldig. Der entwaffnenden Logik seiner Cousine hatte er nichts entgegenzusetzen.

Hauptmann Bahram, der an seinem schlicht gearbeiteten Tisch saß und dem Wortwechsel beigewohnt hatte, ohne auch nur ein Wort davon zu verstehen, forderte Caleb auf, für ihn zu übersetzen. Anschließend formulierte er eine Frage, die Caleb wiederum ins Französische brachte: »Hauptmann Bahram will wissen, ob du dich an die Abmachung erinnerst, die ihr getroffen habt.«

»Ja, Herr.« Conn nickte, er hatte die Frage erwartet. Ohne Zögern ließ er sich auf die Knie nieder, senkte das Haupt und sagte: »Und weil ich mich genau an Eure Worte erinnere und ich Euch mein Wort gegeben habe, das Buch von Ascalon für das Leben meines Adoptivvaters Baldric zu bringen, bitte ich Euch von Herzen, Gnade vor Recht ergehen zu lassen und statt Baldrics Leben das meine zu nehmen.«

»Nein!«, rief Chaya entsetzt, noch ehe er ganz ausgesprochen hatte, aber Caleb übersetzte bereits.

Stille trat in der Kammer ein. Die Überraschung war Bahram deutlich anzusehen. Er erhob sich, kam hinter dem Tisch hervor und trat auf Conn zu. Dabei fragte er ihn erneut etwas.

»Bist du dir der Tragweite deiner Entscheidung bewusst?«, übersetzte Caleb.

Conn blickte auf und schaute Bahram offen ins Gesicht. »Ja, Herr.«

»Nein, Conn! Das darfst du nicht!« Chaya schlug die Hände vors Gesicht. Für ihn hatte die Entscheidung schon die ganze Zeit über festgestanden. Um sie nicht zu ängstigen, hatte er ihr jedoch nichts darüber gesagt.

Selbst Caleb schien Unbehagen zu empfinden. »Du musst das nicht tun, Christ.«

»Nein?« Conn schaute beide an. »Soll ein anderer für mein Versäumnis sterben? Ist es das, was ihr mir vorschlagen wollt?«

Caleb wandte beschämt den Blick. Was er dachte, war nicht festzustellen, aber er übersetzte Conns Worte, woraufhin Bahram zustimmend nickte.

»Danke, Herr«, sagte Conn.

Der Hauptmann erteilte den beiden Posten an der Tür einen Befehl, worauf die beiden das Wachlokal verließen. Kurz darauf kehrten sie zurück, Baldric in ihrer Mitte.

Obwohl sein Zustand sich gebessert hatte, sah er noch immer fürchterlich aus. Als er jedoch Conn erblickte, glitt ein Leuchten über seine geschwollenen Züge.