»Du … du wusstest ebenfalls davon?« Conn schaute seinen Adoptivvater fassungslos an. »Die ganze Zeit über? Warum hast du kein Wort gesagt?«
»Weil es nichts geändert hätte. Solange es keinen Beweis dafür gab, war dein Wissen nicht nur nutzlos, sondern auch höchst gefährlich.«
»Ihr habt mir also geglaubt?«
»Nicht nur das«, sagte Berengar. »Ich ahnte schon damals, dass deine Kenntnisse irgendwann hilfreich sein würden. Denn nichts geschieht ohne Gottes Plan.«
»Ohne Gottes Plan?« Conn trat vor, packte den Mönch am Kragen seiner Kutte und riss ihn an sich heran. »Ist Euch nicht klar, was Ihr damit hättet anrichten können, Mann?«
»Doch, Conwulf – und es war die Scham, die mich hinausgetrieben hat in die Wüste und auf die Spur des Verräters. Aber ich sah keine andere Möglichkeit, um Guillaume de Rein aufzuhalten.«
»Warum habt Ihr mir das nicht gesagt? Warum habt Ihr nicht mit mir geredet?«
»Hättest du mir denn zugehört nach allem, was ich dir und Chaya angetan habe?«, fragte Berengar derart entwaffnend dagegen, dass Conn nicht anders konnte, als ihn wieder loszulassen.
»Wohl nicht«, gab er zu.
»Ich habe Guillaume und seine Mutter Eleanor kennengelernt und weiß, wozu sie fähig sind. Wäre die Lade ihnen in die Hände gefallen, wäre sie nur dazu benutzt worden, ihre Macht und ihren Besitz zu vergrößern. Das konnte ich nicht zulassen.«
»Also habt Ihr das Buch verschwinden lassen, nachdem Ihr es zunächst als angebliche Fälschung entlarvt hattet. Und wo befindet es sich jetzt?«
»An einem Ort verborgen, wo Eleanor es nicht zu finden vermag«, entgegnete der Mönch, wobei er immer wieder stockte und Atem schöpfen musste. »Ich bin den Weg des Verräters bis zum Ende gegangen und werde auch den Preis des Verräters bezahlen – nur dass meine Belohnung nicht dreißig Silberlinge gewesen wären, sondern der Ruhm der Eitelkeit. Und Gottes Herrlichkeit schon zu Lebzeiten zu schauen.«
»Was redet Ihr da?« Conn hob die Brauen. All dies Gerede ergab für ihn keinen Sinn.
»Ich habe meine Buße geleistet, glaub mir. Alles, wonach es mich noch verlangt, ist deine Vergebung, Conwulf, denn an dir habe ich mich mehr als an jedem anderen Menschen versündigt. Ich habe dich hintergangen und deine Freundschaft verraten, und daran trage ich schwer. Willst du mir verzeihen?«
Er hatte zuletzt immer langsamer gesprochen, und seine Züge, so hatte es im Licht der Öllampe jedenfalls den Anschein, waren noch fahler geworden. Conn zögerte mit einer Antwort. In den letzten Wochen hatte es Stunden gegeben, da er den Mönch verflucht und ihm die ewige Verdammnis an den Hals gewünscht hatte. Doch nun, da er vor ihm stand, gebeugt und um Vergebung flehend, konnte er nicht anders, als Mitleid zu empfinden.
»Berengar, ich …«, begann Conn – da brach der Mönch zusammen.
Mit einem leisen Stöhnen ging er zu Boden, und es war Conn, der bei ihm niederkniete, um das Haupt des Mönchs in seinen Schoß zu betten, damit es nicht auf hartem Stein zu liegen kam.
»Conwulf …«
»Was ist mit Euch?«
»Bitte vergib mir«, ächzte der Mönch, während der Blick seiner geweiteten Augen ziellos umherirrte. »Mir bleibt kaum noch …« Er verstummte, als ihn ein heftiger Krampf schüttelte. Gleichzeitig trat ihm bitter riechender Schaum über die Lippen.
»Gift«, stieß Baldric hervor. »Er hat sich vergiftet!«
»Musste es tun«, sagte Berengar. »Bin eine Gefahr, solange ich lebe … gelungen, Buch von Ascalon ganz zu entschlüsseln … weiß, wo die Lade zu finden … nicht in falsche Hände gelangen … niemand.« Er machte eine hilflose Armbewegung, wie ein Ertrinkender kurz vor dem Untergehen. »Bitte, Conwulf! Vergib mir«, flehte er, während sein Körper infolge des Gifts in immer heftigere Zuckungen verfiel. »Will nicht … zum Allmächtigen gehen … ohne Wort der Versöhnung …«
Conn biss sich auf die spröden Lippen.
Sein Zorn auf Berengar hatte sich in nichts aufgelöst angesichts des elenden Häufleins Mensch, zu dem der Mönch geworden war. Berengar mochte gesündigt haben, aber im letzten Moment hatte er sich seiner Herkunft und seiner wahren Pflichten besonnen und das Wohl anderer über sein eigenes gestellt.
Conn holte tief Luft, um dem reuigen Sünder die Absolution zu erteilen, nach der er so dringend verlangte, um ihm zu sagen, dass er ihm seine Untaten vergeben hatte – als er sah, dass Berengar sich nicht mehr regte. Jäh hatten die Zuckungen ausgesetzt. Der Blick des Mönchs war starr und glasig, sein Brustkorb hob sich nicht mehr.
»Berengar?«
Conn sprach ihn an, berührte ihn sanft am Arm, als wollte er einen Schlafenden wecken – doch aus dem Schlaf, in den der Mönch gefallen war, gab es kein Erwachen.
Nicht in dieser Welt.
»Ich vergebe Euch«, sagte Conn leise und in der vagen Hoffnung, der Mönch – oder zumindest seine unsterbliche Seele – könnte ihn noch hören. Dann schloss er Berengar die Augen, während die letzten Worte des Mönchs noch in seinem Bewusstsein nachhallten:
Ich bin den Weg des Verräters bis zum Ende gegangen und werde auch den Preis des Verräters bezahlen – nur dass meine Belohnung nicht dreißig Silberlinge gewesen wären, sondern der Ruhm der Eitelkeit.
28.
Vor den Toren von Jerusalem
8. Juli 1099
Vier Wochen waren vergangen – das Entsetzen über den Tod Berengars wirkte bei Conn jedoch noch immer nach.
Gewiss, er hatte dem Mönch gezürnt und ihm seinen Verrat nachgetragen. Als Berengar jedoch starb, von eigener Hand vergiftet und mit der Bitte um Vergebung auf den farblos werdenden Lippen, hatte Conn ihm alles verziehen und nicht mehr den reuigen Sünder, sondern nur noch den Freund in Armen gehalten – dass es dem Mönch versagt geblieben war, die so dringend erhoffte Vergebung zu erlangen, war bittere Ironie.
Conn würde Berengar nie vergessen.
Von allen Menschen, denen er auf seiner langen Reise begegnet war, hatte der Benediktiner ihn Gott wohl am nächsten gebracht, während er selbst sich gleichzeitig immer weiter von Ihm entfernt hatte. Dies war zugleich Berengars Verdienst und seine Tragik, und Conn hoffte, dass der Herr ihm seine Verfehlungen vergeben und seiner Reue den Vorzug geben würde. Das Buch von Ascalon jedoch, dessentwegen der Mönch zum Verräter geworden war, blieb verschwunden – und mit ihm auch jede Möglichkeit, den kostbaren Schatz aus alter Zeit zu bergen.
Die Belagerung unterdessen dauerte weiter an.
Einen ganzen Monat lang hatte man vergeblich versucht, die Mauern von Jerusalem in einem Sturmangriff zu nehmen. Nicht nur die Jahrtausende alten Bollwerke machten den Kreuzfahrern zu schaffen; auch die Hitze des Sommers trug dazu bei sowie ein erbarmungsloser Feind, der ihnen immer dann auflauerte, wenn sie an einer der wenigen Quellen Wasser zu schöpfen suchten. Der unablässige Streit der Fürsten, die sich nicht auf ein gemeinsames Vorgehen einigen konnten, erschwerte die Lage noch zusätzlich, sodass sich Conn, der als einer von Roberts Rittern an den Versammlungen des Fürstenrats teilnehmen durfte und auf diese Weise Zeuge der Auseinandersetzungen wurde, unwillkürlich an Baldrics mahnende Worte erinnert fühlte.
Herzog Godefroy, Raymond von Toulouse und der Normanne Tankred belagerten die Nordseite der Stadt sowie die Westflanke bis hin zu dem nach König David benannten Turm, der sich als drohendes Bollwerk aus den Mauern erhob und Sitz des fatimidischen Statthalters war; Herzog Robert und seine normannischen Truppen hingegen hatten weiter nördlich Stellung bezogen und riegelten die Straße nach Nablus ab. Dazu kamen behelfsmäßige Siedlungen, die all jene beherbergten, die den Feldzug als Pilger begleiteten, jedoch nicht kämpften. Ihre genaue Anzahl zu bemessen war längst nicht mehr möglich – Conn schätzte, dass auf die rund eintausend Ritter und zehntausend Mann Fußvolk noch einmal dieselbe Menge an Dienern und Knechten sowie an Verwundeten, Frauen und Kindern kam. Infolge der Hitze und der Dürre des Sommers hatten sich Hunger und der Mangel im Lager noch um ein Vielfaches verschärft, sodass viele Pilger es wie einst vor Antiochia vorzogen, ihr Heil in der Flucht zu suchen.