Vor diesem Hintergrund nun hatte der Fürstenrat einen Beschluss gefasst. Nicht, dass sich die Anführer des Feldzugs plötzlich einig geworden wären – die Vorstellungen der Herren, was mit Jerusalem zu geschehen hätte, wenn es erst erobert wäre, klafften weit auseinander. Während Raymond, der Graf von Toulouse und Anführer der Provenzalen, die Stadt für die Kirche in Besitz nehmen wollte und davon ausging, dass kein anderer als Christus selbst König von Jerusalem sein könne, trachteten die italischen Normannen unverblümt nach der Krone. Godefroy de Bouillon hingegen, der mächtige Herzog von Niederlothringen, versuchte zwischen den Parteien auszugleichen und die Belagerung zu organisieren, so gut es unter den gegebenen Voraussetzungen möglich war, was auch den Bau zweier mächtiger Belagerungstürme einschloss, die die Stadtmauern bezwingen sollten. Doch so unterschiedlich die Vorstellungen der Fürsten darüber waren, was nach der Eroberung der Stadt geschehen sollte – sie alle wussten, dass Eile geboten war. Iftikar ad-Dawla, der Befehlshaber der muselmanischen Garnison von Jerusalem, hatte Verstärkung aus Kairo angefordert. Wenn sie eintraf, würde die Kreuzfahrer genau jenes Schicksal ereilen, dem sie vor Antiochia noch mit knapper Not entgangen waren: Man würde sie vor den Stadtmauern stellen, wo sie schutzlos und ohne Befestigung kämpften, und sie bis auf den letzten Mann vernichten!
Entsprechend hatte Isoard von Garp, ein Graf aus dem südlichen Frankreich, vorgeschlagen, dass die Streiter Christi genau das tun sollten, was sie auch vor Antiochia getan hatten, nämlich sich dem Ratschluss des Allmächtigen anzuvertrauen. Der Mönch Desiderius, so der Graf weiter, habe ihn in seinem Zelt aufgesucht und behauptet, dass ihm kein anderer als Bischof Adhémar im Traum erschienen sei, der die Fürsten dazu aufgefordert habe, ihren Streit endgültig beizulegen. Mit einer dreitägigen Fastenzeit und einer Prozession um die Mauern von Jerusalem, barfuß und im Gewand des Büßers, sollten die Herren für ihre Gier und Ichsucht Buße tun. Danach, so Desiderius, werde die Stadt innerhalb von neun Tagen fallen.
Nie zuvor hatte Conn im Fürstenrat so vollkommenes Schweigen erlebt. Schon in der Vergangenheit hatte Desiderius durch seine Visionen von sich reden gemacht; da sie den Zielen der Anführer jedoch oft widersprochen hatten, waren sie kurzerhand nicht anerkannt worden. Diesmal jedoch ahnte wohl ein jeder der Herren, dass Desiderius’ Prophezeiung die einzige Möglichkeit bot, das Kreuzfahrerheer für eine letzte gemeinsame Anstrengung zu einen. Zudem erlaubte sie es jedem der Herren, vor seinen Untergebenen das Gesicht zu wahren, da die Weisung gleichsam von höchster Stelle erfolgte.
Es war ein seltsames Bild, die bärtigen, abgerissenen Gestalten, zu denen die Fürsten verkommen waren, einen nach dem anderen zustimmen und feierliche Eide leisten zu sehen; ein Gefolgsmann Godefroys mit Namen Lethold de Tournaye schwor gar, der Erste sein zu wollen, der die feindlichen Mauern erstürmte. Unwillkürlich verglich Conn sie mit Bahram, dem feingeistigen, gebildeten Orientalen, und mit Caleb, dem jungen Juden, der kein Krieger und dennoch bereit war, sein Heim und seine Familie entschlossen zu verteidigen – und nicht zum ersten Mal fragte er sich, ob er auf der richtigen Seite stand.
Der Beginn der Fastenzeit war sogleich beschlossen worden, und so fand die von Desiderius geforderte Prozession schon zwei Tage später statt. Mehrere tausend Menschen begaben sich an jenem Freitagmorgen auf den Bußgang um die Mauern der Stadt.
Den Anfang machten die Priester und Ordensleute, die Kreuze vor sich hertrugen und feierliche Choräle sangen, in denen sie dem Herrn huldigten; auch wurden mehrere Reliquienschreine dem Heer vorangetragen, die die Fürsprache der Heiligen beim Allmächtigen erwirken sollten. Es folgten die Ritter, die einfache Kleider trugen und barfuß gingen, wie Desiderius’ Vision es verlangte. Trompetenklang begleitete sie, und ein jeder, der in ihren Reihen marschierte – unter ihnen auch Conn und Baldric –, trug sein Schwert vor sich her. Den Edlen folgten die Gemeinen: Fußkämpfer, Handwerker, Mägde und Knechte sowie Pilger, die sich dem Heereszug angeschlossen hatten.
Während die Kreuzfahrer die Prozession, von der sie sich nicht mehr und nicht weniger als den entscheidenden Sieg erhofften, mit dem entsprechenden Ernst begingen, schlug ihnen von den Mauern von Jerusalem zunächst Staunen und dann beißender Spott entgegen. Zahllose Orientalen, die alle einen Blick auf das in ihren Augen so seltsame Schauspiel erhaschen wollten, drängten sich auf den Wehrgängen, spähten zwischen den Zinnen hindurch und lachten schallend über ihre barfüßigen, in Andacht versunkenen Gegner.
Zu Beginn schien die Umrundung der Stadt eine Leichtigkeit zu sein. Je weiter der Tag jedoch voranschritt und je höher die Sonne in den Himmel stieg, desto größer wurde die Strapaze. Noch ehe sie das im Westen der Stadt gelegene Davidstor erreichten, hatten sich viele Büßer bereits die nackten Füße an spitzen Steinen blutig gestoßen. Auch Baldric war davon betroffen, aber die allgemeine Frömmigkeit, die die Streiter Christi erfasst hatte, trieb sie weiter vorwärts, auch dann noch, als ihre Füße blutrote Spuren auf dem heißen Gestein hinterließen. Infolge der Hitze wurde der Durst zur Qual. Zwar begleiteten Mägde mit Wasserschläuchen den Zug, die jenen, die danach verlangten, zu trinken gaben, jedoch reichte die Menge bei Weitem nicht aus, um alle zu versorgen, und so brachen einige von ihnen zur Belustigung der muslimischen Beobachter auf dem Weg zusammen und mussten zum Lager zurückgeschleppt werden.
Conn fürchtete, dass auch Baldric den Strapazen irgendwann Tribut zollen müsste, aber der zähe Normanne hatte sich so weit erholt, dass er den Bußgang bis zum Ende bestritt. Um das südliche Ende der Stadt mit dem Tor von Zion ging es durch die Täler von Kidron und Josaphat wieder gen Norden. Das Ziel des Zuges war mons olivarum, der Ölberg im Nordosten der Stadt – jene Stätte, auf der die Leiden des Herrn ihren Anfang genommen hatten und wo in alter Zeit eine Kapelle errichtet worden war, die an die Geschehnisse erinnern sollte.
Bis auch der letzte Pilger die Stätte erreicht hatte, war es später Nachmittag, und nahe der Kapelle wurde ein gewaltiger Gottesdienst abgehalten; ein Altar war unter freiem Himmel errichtet worden, um den sich die Träger der Kreuze und der Reliquienschreine gruppierten. Sodann kamen die Ritter und ihr Gefolge, zuletzt die Gemeinen – eine unüberschaubare Menge von Menschen, die gesenkten Hauptes den Worten der Priester lauschten und die Messfeier begingen.
Mit großer Spannung wurden die Predigten erwartet, denn jedem im Heer war klar, dass ein solches Ereignis nicht von ungefähr begangen wurde und Großes zu bedeuten hatte. Aus diesem Grund hatten die Fürsten beschlossen, die besten Prediger des Zuges sprechen zu lassen. Den Anfang machte Peter von Amiens, dessen Rednerkunst bei Kur-Bagha auf taube Ohren gestoßen war, der hier jedoch ungleich größeren Anklang fand; die nächste Ansprache hielt Raymond d’Aguilers, der Kaplan Raymonds von Toulouse, der Geistlicher und Gelehrter war und eine Chronik des Unternehmens verfasste; den Abschluss machte Arnulf von Rohes, der für seine flammenden Reden bekannt war.
Wie seine Vorgänger sprach auch er von Buße und Umkehr, von Demut und Opferbereitschaft und vom ewigen Lohn, den die Kreuzfahrer für ihren Einsatz in der bevorstehenden Schlacht um Jerusalem erhalten würden. Aber anders als sie schlug er in seiner Ansprache eine Brücke zwischen den Geschehnissen der Bibel und den aktuellen Ereignissen, die seinen Zuhörern, gleich ob von Adel oder gemein, das Gefühl gab, selbst ein Teil der biblischen Schickung zu sein.