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»… und es ist kein Zufall, meine Brüder«, hörte Conn ihn so laut rufen, dass es weithin zu hören war, »dass wir uns hier versammeln, am Ort des schändlichen Verrats, der an unserem Herrn verübt wurde! Denn wir, die wir den weiten Weg gegangen sind, die wir trotz aller Mühen nicht umgekehrt und bis ans Ziel unserer Pilgerfahrt vorgedrungen sind, sind nur aus einem einzigen Grund hier: um die Geschichte unseres Glaubens neu zu schreiben! Hier an diesem Ort hat der Verräter Judas unseren Herrn für dreißig Silberlinge verraten. Wir jedoch nehmen die Herausforderung an, die der Allmächtige an uns stellt! Wir haben Ihm Treue bis in den Tod geschworen, und statt unser Leben in Reue und Scham zu beenden, wie der Verräter es tat, werden wir diesem unserem Schwur gemäß mit unserem Leben und unserem Blut dafür einstehen, dass das Banner der Christenheit wieder über Jerusalem wehe und aller Welt beweise, dass unser Gott über den der Heiden triumphiert …«

Conn hörte nicht mehr zu.

Die Worte des Kaplans hatten Erinnerungen geweckt. Erinnerungen an das, was Berengar kurz vor seinem Tod gesagt hatte.

Hatte sich nicht auch Berengar als Verräter bezeichnet? Hatte er nicht ebenfalls von dreißig Silberlingen gesprochen? Hatte er damit den Verrat des Judas gemeint und somit in einem biblischen Rätsel gesprochen …?

Bislang hatte Conn eher geglaubt, dass es der Einfluss des Gifts gewesen war, das den Mönch dergestalt hatte sprechen lassen – aber was, wenn es mehr war als das?

Wenn Berengar, der doch überaus gebildet und belesen gewesen war, diese Worte mit Bedacht gewählt hatte?

Wenn er ihm etwas damit hatte sagen wollen?

Conn spürte, wie sich sein Herzschlag beschleunigte. Während alle anderen den mitreißenden Worten der Predigt lauschten, versuchte er sich fieberhaft zu entsinnen, was Berengar sonst noch gesagt hatte. Hatte er nicht behauptet, den Weg des Verräters bis zum Ende gegangen zu sein? Was, wenn er damit einen konkreten Ort gemeint hatte? War der Weg des Judas nicht genau hier auf dem Ölberg zu Ende gewesen, wo er zum Verräter am Herrn geworden war?

Spontan erhob sich Conn aus der knienden Haltung, die er wie die meisten Zuhörer eingenommen hatte, und schaute sich um. Das Erste, was ihm ins Auge fiel, war die alte, halb verfallene Kapelle, und ohne dass er den genauen Anlass dafür hätte benennen können, verspürte er plötzlich das drängende Bedürfnis, sich ihr zu nähern.

»Conn«, flüsterte Baldric ihm zu, »wohin …?«

Aber Conn schüttelte den Kopf und bedeutete ihm nur, ihm zu folgen. Sie bahnten sich einen Weg durch die dichten Reihen der Streiter, die der Predigt mit verklärtem Blick lauschten, und gelangten zu der Kapelle, die lediglich aus einer von einer brüchigen Kuppel überdachten Apsis sowie einem kleinen Vorraum bestand. Eine Tür gab es längst nicht mehr, die Bilder waren zerstört und der Altar entfernt worden. Dennoch ging etwas Ehrfurchtgebietendes von der Stätte aus, sodass sich Baldric bekreuzigte, als er die Schwelle überschritt.

»Was willst du hier?«, fragte er Conn leise, während von draußen weiter die Rede des Predigers zu hören war.

»Nur einen Augenblick.« Conn suchte die brüchigen Wän­de der Vorkammer nach einem Hinweis ab, nach etwas, das ihm bestätigte, dass seine Überlegungen richtig waren. Er fand jedoch nichts, und so drang er in die Apsis vor, durch deren löchriges Kuppeldach helle Sonnenstrahlen einfielen.

Plötzlich ein hohles Geräusch, Stein auf Stein.

Conn verharrte und schaute zum Boden.

Eine der von Sandstaub bedeckten Steinplatten, auf die er soeben getreten war, war lose. Conn bückte sich und wischte einen Teil des Sands mit der Hand beiseite, den Rest blies er fort. Zu seiner Verblüffung kam ein Emblem zum Vorschein, das in das Gestein geritzt worden war.

Ein Kreis, bestehend aus vier Labyrinthen, die in ihrer Mitte ein Kreuz formten!

Conn sog scharf Luft ein. Mit bebenden Händen befreite er die Fugen der Steinplatte von Sand und nahm sein Schwert zu Hilfe, um sie anzuheben. Baldric ging ihm zur Hand, und gemeinsam hoben sie den flachen Quader an, unter dem ein Hohlraum zum Vorschein kam. Darin lag ein längliches Behältnis aus Leder, das mit Wachs versiegelt war.

Conns Herzschlag pochte ihm in den Ohren. Rasch griff er nach dem Köcher und öffnete ihn, aber noch ehe er den Inhalt in der Hand hielt, wusste er, dass es das Buch von Ascalon war.

Die vollständige Schriftrolle, die Berengar an diesem Ort verborgen hatte. Sie selbst herumzutragen war dem klugen Mönch wohl zu gefährlich gewesen, und vermutlich war das Rätsel, das er Conn aufgetragen hatte, zugleich auch eine Prüfung gewesen, die seinen Scharfsinn auf die Probe hatte stellen sollen. Bestand er sie, so war er würdig, die Schriftrolle zu bekommen …

Schweigend vor Staunen starrten Conn und Baldric auf das Pergament, das im einfallenden Sonnenlicht wie Bernstein leuchtete. Dabei stellten sie fest, dass es verändert worden war und zusätzliche Notizen enthielt, die wohl von Berengar stammten. Anmerkungen in lateinischer Sprache, die sich auf einzelne Abschnitte des hebräischen Textes bezogen und Ortsbeschreibungen zu sein schienen. Conn, der des Lateinischen inzwischen leidlich mächtig war, erkannte Himmelsrichtungen und Pfadangaben.

»Was, bei allen Heiligen, ist das?«, fragte Baldric verwundert.

»Berengar. Er hat die Rätsel des Buches gelöst. Dies ist die Wegbeschreibung zu jenem Ort, an dem die Lade des Bundes verborgen ist.«

Erneut breitete sich Schweigen in der kleinen Kapelle aus, und Conn hatte das Gefühl, dass die Pergamentrolle plötzlich zentnerschwer in seinen Händen wog. Er musste an Berengar denken, an das Opfer, das er gebracht hatte, und an die lange und wechselvolle Geschichte, auf die das Buch von Ascalon blickte – und er traf eine Entscheidung.

»Vater?«, wandte er sich flüsternd an Baldric.

»Ja, Sohn?«

»Wir müssen reden.«

29.

Acre

12. Juli 1099

Die Stadt, in die Conn und Baldric zurückkehrten, war nicht mehr die, die sie vor sechs Wochen verlassen hatten.

Jenes Acre war eine wehrhafte Siedlung gewesen, auf deren Türmen und Mauern die Soldaten der örtlichen Garnison Vorbereitungen zur Verteidigung getroffen hatten. Doch zum Kampf um die Stadt war es nicht gekommen. Um der Konfrontation zu entgehen, hatte der Statthalter des Kalifen es vorgezogen, den Kreuzfahrern die Tore zu öffnen und sie mit allem Nötigen zu versorgen – und so machte die Stadt auch noch nach Wochen den Eindruck eines Ackers, über den ein Schwarm Heuschrecken hergefallen war.

Viele Läden und Tavernen waren geschlossen, auf den Märkten gab es kaum Lebensmittel zu kaufen. Die Lagerhäuser und Kornspeicher der Stadt waren leer, eine Folge des Tributs, den man an die Kreuzfahrer entrichtet hatte, und überall in den dunklen Eingängen der Häuser und unter den Schatten spendenden Baldachinen sah man dürre Gestalten mit hungrigen Augen sitzen, die mit einer Mischung aus Neugier und Feindseligkeit auf die beiden Besucher starrten. Denn obschon Conn und Baldric Turbane um die Köpfe gewickelt hatten und das weite Gewand der Orientalen über Kettenhemd und Waffengurt trugen, waren sie natürlich als franca zu erkennen.

Conn fühlte Bedrückung. Einmal mehr musste er an die Versammlung des Fürstenrats denken und an die Stimmen, die er dort gehört hatte; Stimmen, die nach Ruhm und Geltung, vor allem aber nach Besitz und Beute schrien – davon, vor Gott Vergebung zu erlangen, war keine Rede mehr, obschon es vielleicht nötiger wäre als je zuvor.

Vermutlich war dies auch der Grund, dass Baldric ihn begleitete. Als er seinem Adoptivvater von seinen Plänen erzählte, war Conn sich keineswegs sicher gewesen, dass Baldric ihn verstehen, geschweige denn ihm helfen würde. Denn was Conn im Sinn hatte, war nicht nur kühn, sondern verstieß auch gegen seine Pflichten und den Eid, den er als Kreuzfahrer geleistet hatte. Doch um Gottes Gerechtigkeit zu dienen, so war er überzeugt, gab es keine andere Möglichkeit – und zu seiner Erleichterung teilte Baldric diese Ansicht.