»Ich könnte sie für euch übersetzen«, erwiderte Chaya, »ich habe es schon einmal getan. Aber jene Stellen des Buches, die den Aufenthalt der Lade verraten, sind verschlüsselt. Nur die Räte kennen das Geheimnis, wie …«
»Nicht mehr. Berengar hat die Rätsel gelöst«, sagte Conn.
»Dann sollten wir keine Zeit verlieren.«
»Chaya!«, entrüstete sich Caleb. »Du willst tatsächlich gemeinsame Sache mit ihm machen? Mit einem Christen, der das Eigentum unseres Volkes stehlen will?«
»Wir sind nicht die Einzigen, die auf der Suche nach der Lade sind, Caleb«, gab Conn zu bedenken. »Guillaume de Rein ist tot, aber seine Bruderschaft existiert weiter. Wäre es dir lieber, wenn sie in den Besitz der Lade gelangte?«
Calebs Wangenknochen mahlten, in hilfloser Wut starrte er zu Boden. »Es ist Verrat, Chaya!«
»Es ist richtig«, entgegnete sie unbeirrt.
»Ich euch begleite«, erklärte Bahram, der am Tisch sitzen geblieben war und bislang kein Wort gesagt hatte, in zwar akzentschwerem und brüchigem, jedoch verständlichem Französisch.
»Ihr sprecht unsere Sprache?«, fragte Conn verblüfft.
»Nur ein wenig«, schränkte Chaya ein. »Er wollte, dass wir es ihm beibringen.«
Conn hob die Brauen. »Warum?«
Da es seine noch bescheidenen Sprachkenntnisse überstieg, antwortete der Armenier einmal mehr auf Aramäisch, und
Caleb übersetzte: »Vor Jahren sah ich ein Zeichen am Himmel. Es war ein fallender Stern, und ein Weiser sagte mir, dass dies den Untergang eines Reiches bedeute. Heute weiß ich, dass das Morgenland damit gemeint war, denn die Söhne des Propheten sind untereinander uneins. Jeder Statthalter sucht nur seinen Vorteil, deshalb werden die Franken den Sieg davontragen, und es ist gut, die Sprache der Sieger zu sprechen.«
»Eine kluge Überlegung.« Conn nickte. »Aber es ist ein Irrtum anzunehmen, dass die Christen untereinander immer einig wären. Oft genug herrschen auch unter ihnen Zwietracht und Streit.«
»Darüber dürfte sich Bahram im Klaren sein«, erwiderte Caleb säuerlich, anstatt zu übersetzen, »denn genau wie du hat auch er die Taufe empfangen.«
»Er – Ihr seid ein Christ?«
Bahram nickte.
»Und dennoch kämpft Ihr für die Muselmanen?«
Der Armenier schüttelte den Kopf. »Für meine Welt«, verbesserte er, worauf sich Conn sehr einfältig vorkam.
Hatte er tatsächlich geglaubt, einen Christen an seinem Aussehen zu erkennen, an der Farbe seiner Haut? Wenn auch Christen in den Armeen des Kalifen und des Sultans kämpften, wie viele von ihnen, so fragte er sich unwillkürlich, hatten unter den Klingen der Kreuzfahrer wohl den Tod gefunden? War dies der Kampf, den sie fechten sollten, um ewiges Heil zu erlangen?
Bahram fügte noch einige weitere Worte in seiner eigenen Sprache hinzu. »Was sagt er?«, wollte Conn wissen.
»Dass er schon früher in Jerusalem gewesen ist, als sein damaliger Herr Tutush die Stadt besuchte. Er kennt den Weg zum Tempelberg und kann euch führen. Und er glaubt, dass er euch an den Wachen vorbei in die Stadt bringen kann.«
Conn nickte – dies war genau die Art von Hilfe, die für sein Vorhaben vonnöten war. Dennoch wollte er seinen neuen Verbündeten nicht mit falschen Erwartungen täuschen. »Wir suchen die Lade nicht, um das Morgenland zu retten.«
»Bahram weiß«, entgegnete der Armenier.
»Warum wollt Ihr uns dann begleiten?«
»Nachdem Antiochia gefallen«, versuchte Bahram in seinem brüchigen Französisch zu erklären, »nach Süden geflüchtet, erschöpft und ohne Heimat. Dabei Vision – hiervon.«
Er erhob sich von seinem Platz am Tisch und trat auf Conn zu. Dabei griff er unter sein Gewand und holte etwas hervor, das er Conn zeigte. Es war ein Brocken Sandstein, wie man ihn überall in der Wüste finden konnte. Darauf war etwas eingeritzt, das Conn erst bei näherem Hinsehen erkannte: ein Kreis aus vier Labyrinthen, die in der Mitte ein Kreuz formten. Daraufhin zog Conn den Anhänger heraus, den Bischof Adhémar ihm gegeben hatte – die Übereinstimmung war so verblüffend, dass Baldric sich bekreuzigte.
»Deshalb«, sagte Bahram leise, »ich dir folge.«
»Dann geht doch«, begehrte Caleb auf. »Geht nach Jerusalem und brecht die Gesetze! Ich werde euch nicht helfen. Ich kann es nicht!«
»Das verstehe ich«, versicherte Chaya und trat auf ihn zu. »Aber ich bitte dich von Herzen, dich während meiner Abwesenheit um mein Kind zu kümmern. Wirst du das für mich tun?«
Caleb schwieg, womöglich weil er unschlüssig darüber war, was er antworten sollte.
»Chaya hat recht«, pflichtete Conn ihr bei. »Du selbst hast gesagt, dass du dem Jungen ein guter Vater warst und dass du ihn aufrichtig liebst – ich könnte mir niemanden denken, in dessen Obhut er besser aufgehoben wäre als in deiner.«
»Und das sagst ausgerechnet du?«, antwortete Caleb nun doch.
»Ausgerechnet ich.« Conn nickte.
Caleb schaute zuerst ihn, dann Chaya und schließlich den Knaben an. Und obwohl sich alles in ihm dagegen zu sträuben schien, nickte er schließlich.
»Danke«, flüsterte Chaya, trat auf ihn zu und hauchte ihm einen Kuss auf die Wange.
»Danke, Freund«, sagte auch Conn, und zumindest dieses eine Mal widersprach Caleb nicht.
30.
15. Juli 1099
Jerusalem
Am frühen Morgen hatte der Kampf begonnen.
Das Licht des neuen Tages hatte die Kuppeln der Stadt noch kaum berührt, als der Beschuss durch die Belagerer mit bis dahin ungekannter Heftigkeit einsetzte.
Steinbrocken und Pfeile gingen auf Mauern und Wehrgänge nieder, die den Besatzern der Heiligen Stadt signalisierten, dass dies der Tag sein würde, der über ihr Wohl oder Wehe entschied. Der Tag, an dem die Belagerer zum letzten Angriff ausholten.
Der Tag des Jüngsten Gerichts, wie Arnulf von Rohes es in seiner flammenden Predigt ausgedrückt hatte.
Hörnerklang hatte die Kreuzfahrer zu den Waffen gerufen, und die beiden Belagerungstürme waren im Schutz von Pfeilhageln und Katapultbeschuss an die Mauern herangebracht worden – jener, den Raymond hatte errichten lassen, im Südwesten der Stadt, der Turm Godefroys im Norden.
Anfangs hatten die muslimischen Verteidiger auf den plötzlichen Angriff mit Verwirrung reagiert. Massiver Widerstand war ausgeblieben, was den Kreuzfahrern erlaubt hatte, sehr nahe an die Mauer heranzurücken. Doch je länger der Kampf dauerte, desto erbitterter wurde die Gegenwehr, die die Soldaten des Statthalters mit Pfeilen und mit in naft getränkten Brandgeschossen entfesselten.
Im Inneren des sich aus drei Stockwerken zusammensetzenden Belagerungsturmes der Lothringer herrschte drückende Enge.
Dicht an dicht standen die Mannen des Herzogs, bereit und willens, sich auf den Feind zu stürzen. Durch die Ritzen, die zwischen den Bretterwänden und den darüber gespannten Tierhäuten geblieben waren, drang spärliches Licht, und hin und wieder konnten die Männer einen Blick auf das erhaschen, was auf den Mauern vor sich ging. Noch immer wurde das Kampfgeschehen auf beiden Seiten vom Geschick der Bogenschützen und vom Können der Katapultbesatzungen bestimmt, doch bald schon sollte sich dies ändern. Je näher der Turm der Mauer kam, desto geringer wurde der Beschuss, da sich die Reichweite der Katapulte nicht beliebig verkürzen ließ. Griechisches Feuer kam zum Einsatz, das jedoch nicht nur Teile des Turmes, sondern auch das hölzerne Schanzwerk der Verteidiger erfasste, sodass dichter Rauch von der Mauer aufstieg.
Es wurde dunkel im Turm, beißender Schwefelgeruch raubte den Männern den Atem – nicht nur jenen, die die oberen Stockwerke der Kriegsmaschine besetzten, sondern auch denen, die im Schutz ihrer furchterregenden Silhouette dafür sorgten, dass sie Stück um Stück an die Mauer heranrückte. Wie der Kampf im Süden der Stadt vonstatten ging und es um Graf Raymond und die Seinen stand, wusste keiner der Männer zu sagen. Man focht getrennt, und ein jeder hatte alles zu geben.