Die Holzkonstruktion des Turmes erzitterte unter den Pfeilen, die in atemberaubend schneller Folge einschlugen. Bisweilen prallten sie von den gespannten Tierhäuten ab, meist blieben sie stecken, hin und wieder drang auch einer durch die schmalen Öffnungen, durch die die Turmbesatzung nach draußen spähte. Ihre Schilde hochhaltend, die Hände an den Griffen ihrer Schwerter, warteten Herzog Godefroy und seine Mitstreiter ab, bis der Turm nur noch wenige Schritte von der Mauer entfernt war.
Dann kam der Moment der Bewährung.
Zuerst fielen schwere Holzbalken herab und schlugen eine Verbindung zwischen dem Turm und den Zinnen. Sodann warfen sich die Kreuzfahrer, die im zweiten Stockwerk warteten, gegen die Frontverkleidung des Turmes, die sich mit lautem Knarren löste und einer Falltür gleich niederschlug. Indem sie auf den Balken landete, bildete sie eine Brücke, die den Turm der Angreifer mit den Mauern der Verteidiger verband – und der Nahkampf begann.
Der Augenblick, auf den der Herzog und seine Männer gewartet hatten, war gekommen, und es war der ungestüme Lethold de Tournaye, der allen anderen Kämpen voran über die Brücke stürmte, die Mauerkrone überwand und wie ein Blitz unter die überraschten Streiter des Kalifen fuhr. Sogleich folgten ihm weitere Ritter nach, und kaum hatten sie auf dem feindlichen Wehrgang einen Brückenkopf errichtet, überwand auch Herzog Godefroy die Kluft und sprang seinen Leuten bei. Sein Banner, das er über den Zinnen errichten ließ, signalisierte den Fußkämpfern außerhalb der Mauern, dass eine Bresche geschlagen war, und sie legten Dutzende von Sturmleitern an.
Sowohl über den Turm, durch den immer neue Kämpfer nachrückten, als auch an verschiedenen Mauerabschnitten gelangten Kreuzfahrer in die Stadt, nur einige zunächst, dann immer mehr – und unter denen, die die Nordmauer überwanden und in das Viertel der Juden einfielen, das sich nach Süden hin bis zum Tempelberg erstreckte, waren auch Eustace de Privas und seine rachsüchtige Meute.
Die fatimidischen Soldaten, dunkelhäutige Krieger aus den fernen Wüsten Afrikas, sowie die tapfere jüdische Bürgerwehr konnten nicht anders, als dem Druck der einfallenden Massen nachzugeben – und das Morden nahm seinen Lauf.
»Hört ihr das auch?«
Abrupt war Conn stehen geblieben und lauschte.
Das Einschlagen der Katapultgeschosse hatte ausgesetzt, dafür waren von Norden her plötzlich andere Geräusche zu hören – entsetzte Schreie und das Geklirr von Waffen.
»Der Nordwall muss gefallen sein«, vermutete Chaya, die dicht hinter ihm ging und wie er ein weites Gewand mit einem Burnus trug, das sie vor neugierigen Blicken schützte.
»Dann möge Gott sich dieser Stadt und ihrer Bewohner erbarmen«, fügte Baldric hinzu, der am Ende der kleinen Gruppe ging und ihren Rücken sicherte.
Erst am Abend zuvor waren sie aus Acre eingetroffen, und nur Bahram hatten sie es zu verdanken, dass sie überhaupt noch in die Stadt gelangt waren. Indem er vorgab, ein Kaufmann aus Damaskus zu sein und neben seiner jüdischen Frau zwei fränkische Sklaven dabeizuhaben, war es ihm gelungen, das Vertrauen der Wächter zu gewinnen und durch das den Kreuzfahrern abgewandte Goldene Tor eingelassen zu werden, ehe es geschlossen wurde. In einer Herberge unweit des jüdischen Viertels hatten sie die Nacht verbracht, um noch vor Sonnenaufgang von Hörnerklang und den Einschlägen der Geschosse geweckt zu werden.
Der Angriff auf Jerusalem hatte begonnen – und den grässlichen Geräuschen nach, die durch die Gassen des Judenviertels drangen, waren die Kreuzfahrer auf dem Vormarsch.
Die Zeit schien plötzlich stillzustehen.
Conn roch den bitteren Gestank, der von Norden durch die Gassen zog und von Brand und Vernichtung kündete. Die Furcht, die die Stadt gefangen hielt, war fast körperlich zu spüren, nirgendwo war auch nur eine Menschenseele in der einsetzenden Dämmerung zu sehen. Zwar hatten die Einwohner des Viertels die Eingänge ihrer Häuser verbarrikadiert, aber nach allem, was er in Antiochia gesehen und erlebt hatte, glaubte Conn nicht, dass dies die Eroberer aufhalten würde.
Entschlossen nickte er seinen drei Begleitern zu, und sie hasteten weiter, an der Nordseite des Tempelberges entlang, der sich hoch über ihnen erstreckte, gekrönt von der goldenen Kuppel, an der sich der erste Strahl der Morgensonne brach.
Die Zeit drängte.
Conn wusste nicht, wie viel Berengar Eleanor de Rein verraten hatte, ehe er ihr wahres Wesen erkannt und sich von ihr abgewandt hatte, aber er nahm an, dass ihre Schergen wussten, wo der Eingang in die unterirdischen Kavernen zu suchen war. Und wer vermochte zu sagen, ob sie nicht bereits in der Stadt waren?
Die Suche nach der verborgenen Lade war ein Wettlauf mit dem Schicksal, und mit Hilfe von Berengars Aufzeichungen hoffte Conn ihn zu gewinnen.
Wie Chaya ihm erklärt hatte, berichtete das Buch von Ascalon von der Geschichte der heiligen Lade, von den Tagen König Salomons bis hin zu jenen verzweifelten Stunden, da treue Priester sie vor den einfallenden Babyloniern versteckten; doch zwischen den Zeilen, versteckt in Zitaten des tanach, verbargen sich Hinweise auf den Verbleib der Lade. Für den, der sie zu deuten verstand, wiesen jene Worte den Weg zu ihrem Versteck. Der Wettlauf um den Besitz der Lade war der wahre Kampf, der an diesem Tage ausgetragen würde. Vielleicht, dachte Conn, war es nie um etwas anderes gegangen …
»Die erste Anmerkung bezieht sich auf den Eingang zum Versteck«, verkündete er, die Schriftrolle in den Händen. »Zitiert wird eine Stelle aus dem siebenten Kapitel des Buches Genesis.«
»Das erste Buch Mose.« Chaya rief sich ins Gedächtnis, was sie darüber wusste. »Das siebte Kapitel handelt von der Arche, von Noah und von der großen Flut.«
»Genau das«, stimmte Conn zu und las weiter in den lateinischen Aufzeichungen. »Berengar folgerte daraus, dass sich der Eingang zum Versteck am Wasser befinden müsse. Da Jerusalem weder am Meer noch an einem großen Fluss liegt, dachte er an eine Quelle oder …«
»… eine Zisterne«, ergänzte Bahram und deutete die Straße hinab, die an der Mauer und den Felsen des Tempelberges entlangführte. »Mir folgen!«
Der Armenier übernahm die Führung, und sie beschleunigten ihre Schritte, nur um kurz darauf vor einer Tür zu stehen, die den Zugang zu einer in den Fels geschlagenen Öffnung verschloss. Die Gefährten tauschten Blicke. Keiner von ihnen wusste, ob dies die Pforte war, nach der sie suchten, auch wenn manches dafür sprach.
»Wir werden sehen«, sagte Baldric und griff unter seine Robe. Die Axt, die er hervorholte, hatte zwei Schneiden und war für den Einsatz auf dem Schlachtfeld geschmiedet worden, aber sie leistete auch hier zuverlässige Dienste. Nach nur zwei wuchtigen Schlägen brach der Riegel aus dem staubtrockenen Holz, und die Tür ließ sich öffnen.
Rasch wurden Fackeln entzündet, und die Gefährten drangen in die Dunkelheit ein, die jenseits der Öffnung lauerte. Conn ging voraus, gefolgt von Chaya und Bahram, Baldric bildete wie zuvor den Schluss.
Feuchte Luft drang ihnen entgegen. Nach wenigen Schritten mündete der Felsengang in eine geräumige Höhle, deren Boden jäh abfiel und von einer kniehohen Mauer begrenzt wurde. Jenseits davon klafften ungeahnte Tiefen – die Zisterne.
Conn trat vor bis zum Rand, aber der Schein der Fackel reichte nicht weit genug, um den Grund zu erfassen. Auch war unten kein Widerschein zu sehen, wie es der Fall gewesen wäre, wenn sich dort Wasser befunden hätte. Kurzerhand ließ Conn seine Fackel los, sodass sie fauchend in die Tiefe fiel – und rund sechzig Fuß tiefer auf trockenen Stein traf. Vor langer Zeit mochte dies tatsächlich eine Zisterne gewesen sein, doch sie wurde längst nicht mehr benutzt.