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In den Fels geschlagene Stufen wanden sich am Rand der Grube in die Tiefe. Ihnen folgten die Gefährten, bis sie etwa auf halber Höhe auf eine schmale Öffnung stießen, die wenig mehr als ein Felsspalt zu sein schien, den eine Laune der Natur im Gestein geformt hatte. Unterhalb davon zeigte der verfärbte Fels an, dass das Wasser der Zisterne nie weiter gestiegen war als bis hierher.

Conn verharrte. Vergeblich versuchte er, das Dunkel jenseits des Spalts mit Blicken zu durchdringen.

»Was hast du?«, fragte Baldric.

»Ich denke, dass dies unser Weg ist.«

»Was bringt dich darauf?«

»Berengars nächster Hinweis. Er bezieht sich auf das zweite Kapitel des Buches Jona.«

»Ich kenne diese Stelle«, sagte Chaya, »mein Vater hat sie mir oft vorgetragen: ›Und der Herr bestellte einen großen Fisch‹, heißt es dort, ›um Jona zu verschlingen‹.«

»Deus adiuva!«

Schrecklich hallte der Schlachtruf der Lothringer durch die Gassen. Die Nordmauer war gefallen und Truppen in großer Anzahl in die Stadt eingedrungen, die nun durch die Häuserreihen stürmten und den wenigen Widerstand, auf den sie noch trafen, einfach hinwegfegten.

Die Verteidigung an der Nordseite der Stadt war zusammengebrochen. Nachdem sie den Angreifern über Wochen hinweg die Stirn geboten hatten, mussten die Soldaten der Garnison nun weichen und zogen sich zum Tempelberg zurück, der sich einer uneinnehmbaren Festung gleich im Osten der Stadt erhob – doch sie waren nicht die Einzigen, die sich in ihrer Furcht dorthin wandten. Auch die meisten Bewohner des jüdischen Viertels hatten es vorgezogen, nicht in ihren Häusern auszuharren, sondern auf dem Tempelberg Schutz zu suchen, zusammen mit vielen Muslimen, die sich dort eine letzte Zuflucht erhofften. Und kaum war das Tor von Sankt Stephan im Nordwesten der Stadt geöffnet, strömten tausende weiterer Kreuzfahrer in die Stadt. Auch ihr Ziel war die golden schimmernde Kuppel, die sich weithin sichtbar über der Stadt erhob und reichen Ruhm und Beute versprach.

Ein entsetzliches Schlachten setzte auf den Straßen ein, denn wem die fränkischen Krieger auch begegneten, der wurde ohne Rücksicht niedergemacht, ganz gleich ob es sich um Soldaten, Knechte oder Bettler handelte. Ein Strom von Blut kroch von Norden her auf den Tempelberg zu, und je mehr die Kreuzfahrer mordeten, desto größer wurde ihr Hass und desto vernichtender der Rausch, in den sie sich steigerten.

Unter ihnen war auch Eustace de Privas, der an der Spitze all jener Kämpfer stand, die der Bruderschaft verblieben waren. Dies war der Tag, für den sie gelebt hatten und für den ihre Gemeinschaft gegründet worden war.

Der Auftrag, den Eleanor de Rein ihm erteilt hatte, stand dem Ritter aus der Provence so deutlich vor Augen, als hätte er sich selbst dazu entschlossen. Von der verderblichen Wirkung des Giftes, das sie ihm in kleinen Dosen verabreichte und ihn zum willfährigen Diener machte, ahnte er nichts. Am Tempelberg, so hatte sie ihm gesagt, musste es eine Pforte geben, die ins Innere des Berges führte, ein Zugang, verborgen in einer alten Zisterne.

Dort verbarg sich der Schlüssel zur Macht – und dorthin wollten auch Guillaumes Mörder.

31.

Tief unter den Felsen des Tempelberges war von dem Wahnsinn, der an der Oberfläche tobte, nichts zu bemerken. Es war, als gelte inmitten der dunklen, vom Odem einer großen Vergangenheit durchwehten Stollen eine andere Zeit und Wirklichkeit. Immer weiter waren Conn und seine Gefährten in den Berg vorgedrungen, dessen unzählige Stollen und Höhlen einen undurchschaubaren, über Jahrtausende hinweg entstandenen Irrgarten formten – ein Labyrinth, wie Bahram vielsagend feststellte.

Um sich in der verwirrenden Vielfalt von Kreuzungen und Abzweigungen zurechtzufinden, markierten die Gefährten jene Stollen, die sie beschritten, indem sie den Eingang mit ihren Fackeln schwärzten. Auf diese Weise gelangten sie immer tiefer hinein, auf Wegen, die staubbedeckt und seit Generationen nicht mehr beschritten worden waren, während sie Berengars Hinweisen folgten. Ohne die Vorarbeit des Mönchs, der die Rätsel entschlüsselt hatte, wäre es unmöglich gewesen, den Weg durch das Labyrinth zu finden.

Bisweilen ganze Bibelstellen, manchmal auch nur einzelne Worte bildeten verschlüsselte Hinweise, die den Weg wiesen. Wenn es im Buch Kohelet hieß, dass »der Verstand des Weisen zu seiner Rechten und der Verstand des Toren zu seiner Linken« sei, so war dies ein Hinweis darauf, welcher Gang zu wählen war, und wenn es beim Propheten Jesaja hieß, dass »die stolzen Augen des Menschen erniedrigt und des Mannes Hochmut gebeugt« werden, so leitete dies dazu an, einen Stollen zu nehmen, der so niedrig war, dass er nur in gebückter Haltung passiert werden konnte.

Die Textstellen des Buches und die Wirklichkeit des Labyrinths bildeten dabei eine so vollkommene Einheit, dass es unmöglich war zu sagen, was von beidem zuerst existiert hatte. Der in der Sterndeutung bewanderte Bahram nahm jene Zusammenhänge mit Gleichmut zur Kenntnis, spiegelten sie doch für ihn nur die vom Schöpfer gewollte Ordnung des Kosmos wider. Conn jedoch, der sich nie mit derlei Belangen befasst hatte, kam es wie ein Wunder vor. Selbst die kleinsten Dinge bekamen dadurch Sinn, und je weiter sie in das Labyrinth vordrangen, desto überzeugter wurde er, dass es nicht Zufall war, der sie alle hier zusammengeführt hatte, sondern Gottes Wille.

Ein Angelsachse und ein Normanne.

Ein Christ und eine Jüdin.

Ein Kreuzfahrer und ein Orientale.

Sie wollten ihren Weg fortsetzen, als Baldric sich plötzlich umwandte. Das Gesicht des Normannen hatte einen harten Ausdruck angenommen, das einzelne Auge verengte sich.

»Ich höre etwas«, sagte er.

Conn und die anderen lauschten.

Rasche Schritte auf steinernem Boden.

Das Geklirr von Rüstungen und Waffen.

»Wir sind nicht allein«, stellte Baldric wortkarg fest und zog sein Schwert, obschon es ihm in der Enge des Stollens nur bedingt von Nutzen sein würde. »Jemand ist uns auf den Fersen.«

»Los, weiter!«, drängte Conn, und sie nahmen den beschriebenen Felsengang und folgten ihm zu einer Höhle mit zwei Ausgängen. Beide waren mit in Stein gemeißelten hebräischen Schriftzeichen überschrieben.

»Was auch immer ihr tut, tut es rasch«, drängte Baldric grimmig, denn die Schritte wurden lauter. Auch waren jetzt aufgeregte Rufe zu vernehmen, die durch die Felsengänge hallten.

Rufe in französischer Sprache.

»Berengar verweist auf eine Stelle aus dem vierten Buch Mose, die von den Opfergaben der Stammesfürsten an das Heiligtum berichtet …«

»… je zwölf an der Zahl«, fügte Chaya hinzu, die die Stelle kannte, und deutete auf die Zeichen, die über dem linken Stollen angebracht waren. »Die Zwölf ist hier.«

»Dann geht«, knurrte Baldric und stellte sich so, dass er den Stollen, aus dem sie gekommen waren, gut im Blick hatte.

»Was hast du vor?«, fragte Conn.

»Sie aufhalten, so lange wie möglich«, verkündete der Normanne entschlossen.

»Nein!« Conn schüttelte den Kopf und zückte sein eigenes Schwert. »Dann bleibe ich ebenfalls.«

»Unsinn! Du bist der Einzige, der Berengars Aufzeichnungen lesen kann. Wenn du getötet wirst, ist unsere Suche gescheitert!«

»Aber sie werden dich töten!«

»Vielleicht – aber meine unsterbliche Seele wird endlich Erfüllung finden. Deshalb – und nur deshalb – bin ich nach Jerusalem gekommen.«

Conn schluckte. Es kostete ihn große Überwindung, nicht zu widersprechen, dennoch schwieg er. Zum einen, weil er seinen Adoptivvater nicht von seinem Entschluss würde abbringen können. Zum zweiten, weil eine innere Stimme ihm sagte, dass dies der Weg war, der für Baldric vorgezeichnet war. Seine Erlösung.