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»Nia«, sagte die junge Frau nur – und das genügte, um ihn auf einen Schlag hellwach werden zu lassen.

»Was ist mit ihr?« Conn fühlte, wie ihm heiß und kalt wurde. Die Nacht und der prasselnde Regen hörten auf zu existieren, die Zeit schien stillzustehen.

»Sie … sie …«, versuchte Emma mit halb erstickter Stimme zu erklären.

Conn begriff, dass das Wasser in ihrem Gesicht nicht nur vom Regen rührte. Panik erfasste ihn. Ohne dass er es wollte, packte er die Magd bei den Schultern und schüttelte sie. »Emma, in Gottes Namen! Sag mir, was geschehen ist!«

»Ein normannischer Ritter … Guillaume de Rein …«

»Was ist mit ihm?«

»Er … er …«

Conn schloss die Augen, während er inständig zum Herrn flehte, dass das, was er befürchtete, nicht geschehen sein mochte. »Bring mich zu ihr«, forderte er Emma auf. »Kannst du das?«

Die Magd nickte stumm, offenbar erleichtert darüber, dass er auch so verstanden hatte. Um nicht noch mehr Zeit zu verlieren, beschloss Conn, sie nicht mehr zu fragen – er wollte zu Nia, das war alles. Seine Sehnsucht danach, sie zu sehen und in seine Arme zu schließen, war niemals größer gewesen als in diesem Augenblick.

»Dann los«, forderte er Emma auf, und sie huschten aus dem Unterstand. Jetzt erst brachten die Dunkelheit und der strömende Regen sich wieder in Erinnerung, feucht und kalt, aber Conn störte sich nicht daran. Weder merkte er, dass die Fackel nach wenigen Schritten verlosch und es stockfinster wurde, noch nahm er die Nässe wahr, die seine Kleider tränkte und die den gestampften Lehm der Straßen in einen einzigen Morast verwandelt hatte. Seine schäbigen Stiefel versanken bei jedem Tritt, ebenso wie Emmas nackte Füße, sodass sie nur mühsam vorankamen und es eine gefühlte Ewigkeit dauerte, die eigentlich nur kurze Distanz zur Burg zu überbrücken.

Durch dunkle, schmutzige Gassen, die nur deshalb nicht nach Kot und Abfällen stanken, weil der gnädige Regen den Geruch fortgewaschen hatte, huschten sie auf den Großen Turm zu, der jenseits der strohgedeckten, vor Nässe glänzenden Dächer aufragte. Am Himmel gab es weder Mond noch Sterne, sondern nur abgrundtiefe Schwärze, aus der unaufhörlich Regen fiel.

Längst war Conns Kleidung völlig durchnässt, aber er nahm davon ebenso wenig Notiz wie von dem stechenden Schmerz in seiner Seite, der vom kurzen und stoßweisen Atmen rührte. Alles, woran er denken konnte, war Nia, deren Bild vor seinem geistigen Auge auftauchte, lieblich und anmutig, wie er sie zuletzt gesehen hatte. Die Angst, die in seinem Inneren brannte und wie ein Geschwür wuchs, brachte ihn fast um den Verstand.

Endlich erreichten sie das freie Feld, das sich zwischen den Ausläufern der Stadt und der Burg erstreckte und auf dem es keinen Schutz mehr vor dem peitschenden Wind gab. Hals über Kopf setzten sie einen Fuß vor den anderen und erreichten die hölzerne Brücke, die sich über einen schmalen Nebenarm des Flusses spannte und deren Bohlen glitschig waren vom Regen. Emma rutschte aus und fiel hin, wurde aber von Conn, der sofort bei ihr war, wieder in die Höhe gerissen. Jenseits der Brücke ragte die Palisadenmauer auf, in die das Westtor eingelassen war. Davor hielt ein einsamer Posten Wache, der sich eine Haut aus gegerbtem Leder übergeworfen hatte, um sich vor dem Unwetter zu schützen. Er schien die Magd zu kennen, denn sie wechselte einige Worte mit ihm, worauf er Conn passieren ließ, freilich nicht ohne ihm vorher noch einen warnenden Blick zuzuwerfen.

Es war das erste Mal, dass Conn die Burg betrat. Infolge der Dunkelheit und des dichten Regenschleiers, der den Innenhof verhüllte, sah er wenig mehr als einige schemenhafte Gebäude und die Formen des Großen Turmes, der bedrohlich aufragte. Aber selbst wenn es heller Tag gewesen wäre, hätte er um sich herum kaum etwas wahrgenommen. Seine einzige Sorge galt Nia.

»Wo ist sie?«, fragte er Emma drängend, worauf die Magd ihn am Arm packte und zu einer der länglichen Behausungen führte, die die Südmauer säumten. Stallgeruch stieg Conn in die Nase, der vermuten ließ, dass man die Leibeigenen zusammen mit dem Vieh hielt, das in den Baracken untergebracht war. Durch den prasselnden Regen hörte Conn das Schnattern von Gänsen und das unruhige Schnauben von Pferden. Dann erreichten sie ein mit hölzernen Schindeln gedecktes Vordach, unter das Emma ihn zog. Durch einen schmalen, türlosen Eingang ging es ins Innere der Baracke, wo es so dunkel war, dass Conn die Hand kaum vor Augen sehen konnte.

Eine Talgkerze wurde entzündet, die spärliches Licht verbreitete, und Conn erkannte, dass er sich im Quartier der Sklaven befand. Stroh war auf dem gestampften Boden verteilt, Schlafende lagen entlang der Wände, Männer, Frauen und Kinder gleichermaßen, die allesamt das Eisen der Leibeigenschaft um den Hals trugen. Im hintersten Winkel der geräumigen, aber niedrigen Kammer lag eine gekrümmte, halbnackte Gestalt, bei deren Anblick Conn dachte, sein Herz müsse zerspringen.

»Nia!«

Obwohl er so rasch zu ihr stürzte, wie seine wackligen Beine es zuließen, hatte er das Gefühl, sich wie in Trance zu bewegen. Endlich erreichte er sie, sank bei ihr nieder – und mit Entsetzen sah er das Blut, das ihr zerschlissenes graues Kleid tränkte.

»Nia! Mein Gott!«

Zusammengekrümmt hatte sie auf der Seite gelegen. Nun, da sie seine Stimme hörte, drehte sie sich auf den Rücken, und er erschrak abermals. Ihre feingeschnittenen Züge waren verschwollen und von Blessuren übersät, verkrustetes Blut klebte an ihrer Stirn. Noch mehr jedoch entsetzte ihn die fahle Blässe, die von ihr Besitz ergriffen hatte. Ruhelos zuckten ihre Augen in den Höhlen umher. Bald erfassten sie ihn, dann verloren sie ihn wieder. Sie schien nicht in der Lage, ihren Blick zu fokussieren.

»Conn«, flüsterte sie dennoch, und trotz ihres jämmerlichen Zustands glitt etwas wie ein Lächeln über ihr Gesicht. »Du bist gekommen.«

»Natürlich.« Er ergriff ihre Hand, die so kalt war wie Eis. Dennoch standen ihr Schweißperlen auf der Stirn, ihr Haar hing in feuchten Strähnen.

»V-verzeih mir, Conn«, presste sie mühsam hervor. Tränen schwammen in ihren Augen, Schmerz verzerrte ihre entstellten Züge. »Ich konnte nichts dagegen tun.«

»Ich weiß«, sagte er nur. Ihr Kleid, das an den Schultern zerrissen und bis zu den Hüften herabgezerrt worden war, legte beredtes Zeugnis ab. Und da waren die dunklen Flecke, die den Stoff unterhalb der Leibesmitte färbten und inzwischen auch auf dem Boden zu finden waren.

Blut, überall Blut.

Conn verspürte den Drang, aufzuspringen und Hilfe zu holen – aber an wen hätte er sich wenden sollen? Die normannischen medici kümmerten sich einen Dreck um das Leben eines gemeinen Angelsachsen, geschweige denn um das einer walisischen Sklavin. Außerdem, so glaubte Conn zu erkennen, war es kein Arzt, den Nia brauchte, sondern ein Wunder.

An ihrem Lager kauernd, ihre blutigen Hände in den seinen, begann er lautlos zu beten, flehte den Herrn um Beistand an in dieser schweren Stunde und schwor, dass er für alle Vergehen Buße tun wollte, die er in seinem Leben begangen hatte. Doch Nias Zustand besserte sich nicht. Mit jedem Augenblick schien das Leben ein Stück mehr aus ihr zu weichen.

Conns Gedanken jagten sich.

Wer immer dies getan hatte, hatte wie eine Bestie gewütet, und den Verletzungen nach, die sie erlitten hatte, hatte sich Nia mit aller Kraft gewehrt. Warum nur, fragte er sich in seiner Verzweiflung, hatte ihr niemand geholfen? Wieso hatte niemand etwas dagegen unternommen? Weshalb hatte keiner die Wachen gerufen?

Natürlich kannte Conn die Antwort, sie war so einfach wie ernüchternd. Aus der Sicht eines Freien war das Leben einer Sklavin in etwa so viel wert wie das eines streunenden Hundes – und niemandem wäre es eingefallen dazwischenzugehen, wenn ein normannischer Edler einen hergelaufenen Köter verprügelte.

»Conn?«

Er schaute auf sie herab. »Ja?«

»Weißt du noch?«, fragte sie mit brüchiger Stimme, während ihre Augen die seinen suchten, sie jedoch nicht fanden. »Ich habe dir von Cymru erzählt, meiner Heimat … von den grünen Hügeln des Tieflands und den dichten Wäldern … von uralten moosbewachsenen Felsen und von Flüssen so klar wie ein Frühlingsmorgen. Weißt du noch?«