Erneut waren laute Rufe zu hören.
Die Verfolger waren nicht mehr weit entfernt.
»Geht«, drängte Baldric. »Möge der Herr euch begleiten.«
»Shalom, Baldric«, sagte Chaya. Dann wandte sie sich um und huschte in den Gang, der mit der Zahl Zwölf überschrieben war.
Conn schaute seinen Adoptivvater zweifelnd an. Baldric nickte ihm zu, und es lag so viel Kraft und Zuversicht in seinem Blick, dass Conn allen Trennungsschmerz überwand und Chaya folgte. Auch Bahram wollte gehen, nicht ohne den Stolleneingang noch mit Ruß zu schwärzen.
»Nein«, sagte Baldric kopfschüttelnd.
»Warum nicht?«
Der Normanne deutete in die Richtung, aus der die Geräusche drangen. »So haben sie uns gefunden«, sagte er düster.
Sie liefen, so schnell sie konnten, während sie hinter sich die Geräusche des Kampfes hörten: das Klirren von Klingen, Geschrei und hin und wieder die laute Stimme Baldrics, der seine Gegner verspottete, obschon sie in der Überzahl waren.
Conns Herzschlag raste.
Ein Teil von ihm wäre am liebsten sofort umgekehrt, um seinem Adoptivvater zur Hilfe zu eilen, während ein anderer Teil ihm sagte, dass er damit alles gefährdet hätte. Mit eisernem Willen zwang er sich, weiterzulaufen, Tränen ohnmächtiger Wut in den Augen.
Dann verstummten die Geräusche.
Der Kampf war zu Ende, und man brauchte kein Hellseher sein, um zu wissen, wie er ausgegangen war.
Im Laufen schloss Conn für einen Moment die Augen und sprach ein kurzes Gebet, empfahl die unsterbliche Seele Baldrics dem Himmel und hoffte, dass der alte Krieger nun endlich Befreiung von jener Schuld erfahren würde, die er den größten Teil seines Lebens herumgeschleppt hatte. Dann konnte er erneut Schritte hören, nicht mehr ganz so viele wie zuvor, aber nicht minder hastig.
»Zwei Gänge«, stieß Bahram hervor, während sie ihre Schritte noch beschleunigten. »Verfolger sich geteilt.«
Conn nickte – was immer also geschehen würde, sie hatten es mit weniger Gegnern zu tun als zuvor. Abzüglich derer, die den Kampf gegen Baldric mit dem Leben bezahlt hatten.
Unvermittelt gelangten sie in eine weitere Höhle, deren Decke vor Urzeiten kunstvoll bemalt gewesen sein mochte – jetzt waren nur noch spärliche Überreste der einstigen Pracht zu erkennen. Gleich drei Stollen zweigten aus der Kaverne ab, doch etwas war diesmal anders.
»Es gibt keine Textstelle, die sich darauf bezieht!«, stellte Conn fest, während er die Schriftrolle bis zum Ende entrollte.
»Dann müssen wir einen falschen Weg gegangen sein«, folgerte Chaya.
»Unmöglich.« Conn schüttelte den Kopf. »Wir haben jeden einzelnen Hinweis genau befolgt.«
»Und wenn Berengar sich geirrt hat?«, hakte die Jüdin nach.
»Nein«, sagte Conn noch einmal, allen Zweifeln zum Trotz, die sich wie ätzendes Gift in seinem Körper ausbreiteten. Hatten sie etwas übersehen und waren deshalb in einer Sackgasse gelandet? War es nötig, den Weg noch einmal zurückzugehen?
Er musste an die Verfolger denken, deren Stimmen und Schritte immer noch lauter wurden. Mit bebenden Händen hielt er die Schriftrolle ins flackernde Licht der Fackel und las, was Berengar geschrieben hatte. Es war die letzte Anmerkung, die er vorgenommen hatte, und in Conns Augen ergab sie keinen Sinn: Signa litteraeque non finis, sed initium fidei bonae in unum deum.
»Was heißt das?«, fragte Chaya drängend.
»Dass Zeichen und Buchstaben nicht das Ende, sondern der Anfang eines treuen Glaubens an den einen Gott sind«, erwiderte Conn. »Was soll das bedeuten? Ich verstehe es nicht!«
Die Rufe ihrer Verfolger wurden noch lauter. Unsteter Lichtschein war plötzlich im Stollen zu erkennen.
»Dort vorn ist Licht!«, rief jemand.
»Wir haben sie gleich!«
Conn rollte das Pergament hastig zusammen, schob es in seinen Gürtel und zog sein Schwert. Bahram tat nichts dergleichen.
»Worauf wartet Ihr?«, fuhr Conn ihn an, während er sich schützend vor Chaya stellte. »Sie werden gleich hier sein.«
»Ich nachdenke«, verkündete der Armenier ruhig.
»Worüber? Über Berengars Worte?« Conn lachte auf. »Glaubt Ihr, durch Nachdenken allein …?« Er verstummte, als sich die Züge des Orientalen plötzlich aufhellten. »Was habt Ihr?«
»Nicht ich«, widersprach Bahram schlicht. »Ihr selbst gerade die Lösung gefunden. Letztes Rätsel geht nicht um Zeichen oder Worte – sondern um Glauben. Das Berengar sagt.«
»Er hat recht, Conn«, stimmte Chaya zu. »Es könnte eine Glaubensprüfung sein. Man will wissen, ob wir uns unserer Sache wirklich sicher sind.«
Conn schürzte die Lippen, seine Blicke flogen zwischen der Stollenmündung und den drei Ausgängen hin und her. »Selbst wenn ihr recht hättet – welchen Gang sollen wir nehmen?«
»Ein jeder von uns einen Gang«, schlug Bahram vor.
Conn verzog das Gesicht. Der Gedanke, sich von Chaya zu trennen und sie auf diese Weise in noch größere Gefahr zu bringen, gefiel ihm nicht. Aber die Entschlossenheit in ihrem Gesicht signalisierte ihm, dass sie sich ohnehin bereits entschieden hatte.
»Es ist gut.« Sie nickte ihm zu. »Wir müssen glauben, Conn.«
»Da sind sie! Dort vorn!«
Der Lichtschein aus dem Stollen war noch heller geworden, lange Schatten eilten ihm voraus – Schatten, deren dunkle Silhouetten vor Waffen starrten.
Conn sah ein, dass sie keine andere Wahl hatten. Er küsste Chaya zum Abschied flüchtig auf den Mund und nickte Bahram zu – und jeder von ihnen nahm einen anderen Ausgang.
Conn rannte, so schnell er konnte.
Erst nach einigen Schritten wurde ihm klar, dass er das Pergament bei sich trug und die anderen deshalb ohne jeden Hinweis waren, dann wieder fiel ihm ein, dass Berengars Weisheit ohnehin erschöpft gewesen war. Würde sie ausreichen, um ans Ziel der Suche zu führen?
Ihre Verfolger immerhin hatten sich erneut aufteilen müssen. Den Schritten nach zu urteilen, die ihm hinterdreineilten, hatte Conn es nur noch mit zwei Gegnern zu tun, mit denen er im günstigen Falle fertig werden konnte – der Gedanke allerdings, dass ebenso viele hinter Chaya her waren, brachte ihn fast um den Verstand.
So rasch er es vermochte, setzte er einen Fuß vor den anderen, dabei musste er sich immer wieder ducken, weil der Stollen nicht hoch genug war, um aufrecht darin zu gehen. Die Fackel in seiner Hand fauchte, während er immer weiter hastete und leise gemurmelte Stoßgebete zum Himmel schickte.
Plötzlich endete der Gang.
Von einem Augenblick zum anderen fand Conn sich in einer Höhle wieder, deren Decke mit einem funkelnden Sternenhimmel bemalt war. Conn blieb keine Zeit, ihn zu bestaunen, denn schon im nächsten Moment war er nicht mehr allein.
Als er scharfen Atem und rasche Schritte hörte, hob er das Schwert und fuhr herum – nur um sich Bahram gegenüberzusehen, dessen Gang ebenfalls in die Kammer mündete. Und einen Herzschlag später langte auch Chaya bei ihnen an. Erleichtert schloss Conn sie in die Arme, während er Berengar in Gedanken Anerkennung zollte.
Der alte Fuchs hatte recht gehabt.
Um die letzte Hürde zu überwinden, war tatsächlich nichts als bloßer Glaube vonnöten gewesen.
»Conwulf! Chaya!«
Bahram war bereits in die Mitte der Kammer getreten, unter das künstliche Sternenzelt, das im Licht seiner Fackeln schimmerte. Ein steinerner Baldachin war dort errichtet worden, der etwas überdachte, das wie ein in den Boden eingelassener Sarkophag aussah.
Ein Sarkophag, in dessen Deckplatte ein Zeichen gemeißelt war, das sie alle kannten.
Das Siegel Salomons.
32.
Die Lade des Bundes.
Niemand von ihnen bezweifelte, dass sie sich in jenem steinernen Behälter befand, denn eine unerklärbare Kraft schien von dieser Kammer am Ende des Labyrinths auszugehen.