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Kälte umgab ihn und eine Schwärze, die dunkler war als jede Nacht. Conn merkte, wie die Strömung ihn erfasste und er zum Grund des Flusses hinabgezogen wurde. Er wollte Schwimmbewegungen machen, aber infolge des Fremdkörpers, der in seinem linken Unterarm steckte, gelang es ihm nicht. Noch ehe sich seine Lungen bemerkbar machten und ihn daran erinnerten, dass er ein menschliches Wesen war und Luft zum Atmen brauchte, spürte er den Schmerz.

Beißend.

Brennend.

Überwältigend.

Vergeblich strampelte Conn mit den Beinen.

Weder gelang es ihm, zur Oberfläche zu kommen, noch hatte er der Strömung etwas entgegenzusetzen, die ihn gnadenlos mit sich riss. Sehen konnte er nichts, ein Oben und Unten schien es nicht mehr zu geben. Alles, was er wahrnahm, war ein alles durchdringendes Rauschen, wobei er nicht zu sagen vermochte, ob es das Tosen des Flusses oder sein eigenes Blut war, das in seinen Schläfen pulsierte.

Seine Lungen drohten zu bersten, und er riss die Augen auf, sah jedoch nichts als abgründige Schwärze. Zuerst wehrte er sich noch dagegen, dann befiel ihn Gleichgültigkeit.

Seine Kräfte ermatteten, und einen Augenblick, ehe er das Bewusstsein verlor, glaubte er, noch einmal Nias zarte Lippen auf den seinen zu spüren. Ein letzter zaghafter Kuss.

Dann das Vergessen.

10.

Köln

29. Mai 1096

»Setzt euch, meine Freunde! Setzt euch und hört, was unser hoher Gast zu berichten hat!«

Eine neue Sitzung des Gemeinderats war einberufen worden, in aller Eile und zu nächtlicher Stunde, was darauf schließen ließ, dass etwas Ernstes vorgefallen sein musste. Und keines der anwesenden Ratsmitglieder, noch nicht einmal Mordechai Ben Neri, konnte sich der Unruhe entziehen, die in der Synagoge um sich griff. Ein Tuscheln und Wispern erfüllte das ehrwürdige Gotteshaus und drang hinauf bis in die Kuppel. Unbestimmte Furcht lag in der Luft, die durch den unerwarteten Besuch noch zusätzlich genährt wurde.

Der Mann, der neben Parnes Bar Levi auf einem Schemel saß und darauf wartete, dass die elf Mitglieder des Rates ihre Plätze einnahmen, mochte an die fünfzig Jahre alt sein. Er hatte graues Haar, und seine Haltung war ähnlich gebückt wie die des Vorstehers – allerdings wohl nicht infolge seines Alters, sondern der Strapazen wegen, die hinter ihm lagen. Seine Kleidung, die aus einem gestreiften Mantel und schäbigen Sandalen bestand, war zerschlissen, seine Züge ausgemergelt und schmutzig wie bei jemandem, der eine lange und beschwerliche Wanderschaft hinter sich hatte. Seine Augen jedoch verrieten nicht nur Erschöpfung, sondern starrten in stillem Entsetzen.

Auch wenn er sich seit ihrer letzten Begegnung sehr verändert hatte – Isaac kannte den Mann.

Es war Kalonymos Ben Meschullam, der Oberrabbiner von Mainz – und Isaac war klar, dass es nichts Gutes zu bedeuten hatte, wenn der oberste Lehrer einer anderen Gemeinde nächtens nach Köln kam und deswegen eine Sitzung einberufen wurde.

»Was gibt es?«, fragte Mordechai ungeduldig. »Warum bringt Ihr uns um unseren verdienten Schlaf, ehrwürdiger Parnes?«

»Weil es Dinge gibt, von denen ihr umgehend erfahren müsst, meine Freunde«, entgegnete Bar Levi mit tonloser Stimme. Überhaupt wirkte der Vorsteher der Kölner Gemeinde, als wäre er einem fürchterlichen Dämon begegnet, so kreidebleich waren seine Züge und so verstört sein Blick. »Den meisten von euch dürfte Kalonymos, der Oberrabbiner von Mainz, bekannt sein. Schon zu früheren Gelegenheiten hat er uns besucht, um an den Beratungen der Gelehrten teilzunehmen. Diesmal jedoch ist er aus einem anderen Grund zu uns gekommen. Kalonymos, ich bitte Euch, berichtet dem Rat, was Ihr mir berichtet habt.«

Der andere nickte. Er schien nicht fähig, den Ratsmitgliedern in die Augen zu sehen, und so starrte er zu Boden, während er nach passenden Worten suchte. Dabei atmete er schwer und wankte auf seinem Hocker wie jemand, der eine schwere körperliche Anstrengung bewältigt hatte. Akiba, der Rabbiner, der links von ihm saß, ergriff schließlich seinen Arm und flüsterte ihm einige beruhigende Worte zu. Daraufhin nickte der Besucher und begann mit heiserer Stimme zu berichten.

»Vor wenigen Tagen ist es in unserer Stadt zu einem grässlichen Blutbad gekommen. Der Graf Emicho und die Seinen sind nach Mainz gelangt, und was sie unter unseren Leuten angerichtet haben, ist … ist kaum zu …« Er stockte. Tränen traten ihm in die Augen, die an seinen hohlen Wangen herabrannen und im grauen Staub, der sein Gesicht bedeckte, gezackte Spuren hinterließen.

Die Ratsmitglieder tauschten Blicke, einige davon furchtsam, andere verwirrt, wieder andere in trotzigem Zweifel. Isaac schloss die Augen, ahnend, dass sich nun bewahrheiten würde, was er schon seit geraumer Zeit befürchtet hatte.

»Ich bin gekommen«, fuhr der Rabbiner aus Mainz fort, »um euch zu warnen, meine Freunde. Schreckliches ist geschehen. Blut ist geflossen und grausame Verbrechen wurden verübt. So viele von uns sind tot, erschlagen von Emichos Schergen.«

»Dann ist es also wahr? Die Christen führen wirklich Krieg gegen uns?«, fragte Elija, der Bäcker.

»Nein.« Kalonymos schüttelte traurig das Haupt. »Kriege, mein Freund, werden auf dem Schlachtfeld ausgetragen, im offenen Kampf Mann gegen Mann. Emicho und seine Schlächter hingegen haben auch Frauen und Alte ermordet. Und sogar die Kinder …« Er hielt erneut inne. Seine vom Kerzenschein beleuchteten Züge verzerrten sich, und Krämpfe schüttelten ihn, aber es kamen keine Tränen mehr aus seinen Augen, so als hätte er sie bereits alle vergossen und wäre innerlich verdorrt angesichts der durchlebten Schrecken.

»Berichtet von Anfang an, Rabbi«, bat Bar Levi sanft. »Wir schätzen es überaus, dass Ihr zu uns gekommen seid. Aber um entscheiden zu können, was zu tun ist, müssen wir alles erfahren.«

Kalonymos nickte, und sein Blick, der nach wie vor auf den Boden gerichtet war, nahm einen entrückten Ausdruck an. Eine endlos scheinende Weile verging, in der der Rabbiner offenbar die Wirrnis seiner Gedanken zu ordnen suchte, und den Schatten nach zu urteilen, die dabei über seine ausgezehrten Züge huschten, begegnete er dabei namenlosem Grauen. In der Synagoge wurde es so still, dass man eine Nadel fallen gehört hätte.

»Es begann vor vier Tagen«, begann der Rabbiner mit festerer Stimme als zuvor. »Sicher haben auch euch die beunruhigenden Nachrichten über jene Vorfälle erreicht, die sich in Worms zugetragen haben sollen. Auch wenn sie noch unbestätigt waren, wollten wir dennoch Vorsicht walten lassen und haben uns in den Schutz des Erzbischofs begeben, den wir alle als milde und gerecht kennen.«

»Eine weise Entscheidung«, anerkannte Mordechai und schaute Beifall heischend reihum, doch keines der Ratsmitglieder erwiderte seinen Blick. Aller Augen waren wie gebannt auf den Oberrabbiner gerichtet, der mit gepresster Stimme fortfuhr.

»Angesichts der herannahenden Gefahr durch den Grafen Emicho und die Seinen haben wir Erzbischof Ruthard dreihundert Silberstücke übergeben, auf dass er uns seinem Schutz unterstelle. Er versprach, sich jeder Gefahr entgegenzustellen und uns nötigenfalls in seinem Hause Zuflucht zu gewähren.«

»Und dann? Was ist dann geschehen?«, wollte Usija, der Gehilfe des Kölner Rabbiners, wissen.

»Graf Emicho und seine Horde gelangten vor die Tore der Stadt. Die Hetzreden, die die Wanderprediger seit einiger Zeit gegen all jene führen, die nicht christlichen Glaubens sind, hat viele hervorgebracht, die das Haus Jakob abgrundtief hassen. Er jedoch ist der schrecklichste von allen. Zwei Tage lang lagerten seine Truppen vor der Stadt, und noch immer gab ich mich der Täuschung hin, ihre Zerstörungswut und ihr grundloser Zorn könnten mit materiellen Gütern besänftigt werden. Auf meine Empfehlung hin entrichtete die Gemeinde eine Zahlung von sieben Pfund reinen Goldes an den Grafen, worauf uns Sicherheit und freies Geleit zugesichert wurde. Als die Stadttore jedoch geöffnet wurden, zogen die meisten von uns es dennoch vor, sich in den Schutz der Bischofssitzes zurückzuziehen – und das aus gutem Grund.«