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Die Augen des Oberrabbiners wurden glasig, als die Gräuel der Vergangenheit erneut vor ihnen Gestalt annahmen. »Kaum dass sie ihren Fuß in die Stadt gesetzt hatten, fing es an«, berichtete er mit tonloser, fast flüsternder Stimme. »Diejenigen von uns, die sich entschlossen hatten, in ihren Häusern zu verbleiben, wurden an den Haaren auf die Straßen geschleift und durch Kot und Schmutz gezerrt, ehe sie schließlich grausam ermordet wurden. Ihre Häuser wurden gestürmt und ihre Habe geplündert. Sodann zogen der Graf und seine Männer vor die Mauern des Bischofssitzes und verlangten unsere sofortige Herausgabe.«

»Und der Bischof? Was hat er getan?«, wollte Mordechai wissen.

Der Rabbiner schnaubte voller Verachtung. »Die Schulden, die wir ihm erlassen, und die weiteren zweihundert Silberstücke, die wir ihm bezahlt hatten, hatte er bereitwillig angenommen. Als des Grafen Horde jedoch die Stadt betrat, da flüchteten Ruthard und seine Soldaten und ließen uns schutzlos zurück.«

»Er … er ist geflohen?« Verzweifelter Unglaube schwang in Mordechais Frage mit.

»Hatten wir ernsthaft erwartet, dass ein Christ das Schwert gegen einen Christen erheben würde, um einen Juden zu verteidigen?« Kalonymos schüttelte den Kopf. »Wie töricht wir waren.«

»Und dann? Was ist dann geschehen?«, fragte ein anderer Vornehmer bange.

»Wir alle, die wir uns in den bischöflichen Palast geflüchtet hatten, bewaffneten uns, so gut wir es vermochten – doch gegen die Wut, mit der Emichos Schergen gegen die Mauern anrannten, konnten wir nichts ausrichten. Nach wenigen Stunden fiel das Tor, und der Graf und seine Schlächter fielen über uns her. Ein schreckliches Morden entbrannte, dem unzählige unserer Schwestern und Brüder zum Opfer fielen. Auch Josua, mein geliebter Sohn, ist unter den Toten«, fügte der Oberrabbiner leise hinzu. »Er stellte sich zwei Soldaten entgegen, die sich seiner Frau und seiner beiden Söhne bemächtigen wollten, aber sie schlugen ihn nieder. Der eine durchbohrte ihn mit dem Schwert, der andere zerrte ihm die Kleidung herab und beraubte ihn seiner Männlichkeit. Jetzt, brüllte er, sei er rechtmäßig beschnitten. Dann durchstießen sie seinen Söhnen die Kehlen und vergingen sich an seiner Frau.«

»Und Ihr?«, erkundigte sich Mordechai, dessen Züge inzwischen rot vor Zorn und Empörung waren. »Was habt Ihr getan?«

»Ich fiel nieder, wo ich stand. Was hätte ich auch tun sollen als Greis, der ich bin? Den grausamen Kriegern Widerstand leisten, denen unsere jüngsten und kräftigsten Männer nicht widerstehen konnten? Nach allem, was ich gesehen hatte, wollte ich nicht mehr leben, und ich wartete nur darauf, dass blutgetränkter Stahl mich treffen und durchstoßen würde. Aber aus einem Grund, den ich nicht zu durchschauen vermag, hielt Gott seine schützende Hand über mich. Jemand zog mich auf die Beine und riss mich mit fort. An das, was dann geschehen ist, erinnere ich mich nicht. Aber als ich wieder zu mir kam, war ich in der bischöflichen Sakristei, in die sich rund fünfzig von uns geflüchtet hatten. Einen Tag und eine Nacht lang harrten wir dort aus, umgeben vom Geschrei der Sterbenden und vom Gebrüll der Mordbrenner, und rechneten jeden Augenblick damit, entdeckt und ebenfalls getötet zu werden. Aber dann zogen sie schließlich ab.«

Jakob, der Gabbai, der einmal mehr über das Gesprochene Buch geführt und es in kurzen Worten festgehalten hatte, schaute von seinem Pergament auf. Die Feder in seiner Hand bebte. »Wollt Ihr damit sagen, dass … dass nur jene fünfzig, die sich in der Sakristei verbargen, den Überfall überlebt haben?«

»Ich will damit sagen«, entgegnete Kalonymos düster, »dass jene fünfzig – zumeist Alte, Kinder und Schwache – zunächst entkommen sind. Doch blieben sie weiterhin den Nachstellungen des Feindes ausgesetzt, und viele von ihnen starben in den darauffolgenden Tagen, als Emichos Schergen in den Wäldern eine gnadenlose Jagd eröffneten, geradeso, als gelte es, Vieh zu erlegen und Trophäen zu sammeln. Während einer nächtlichen Attacke wurde ich von den anderen getrennt. Ich lief, so weit ich nur konnte, während ihre Schreie durch die Dunkelheit gellten, immer und immer wieder, jedes Mal, wenn einer von ihnen gefangen wurde …« Er presste die Hände auf die Ohren, als könne er sich so vor den furchtbaren Lauten schützen, die er noch immer zu vernehmen schien. »Irgendwann endeten die Schreie, aber ich lief immer noch weiter. Schließlich stieß ich auf den Fluss, und ein Schiffer erbarmte sich meiner, nachdem ich ihm mein letztes Geld gegeben hatte. Auf diese Weise gelangte ich hierher, um euch zu warnen, meine Brüder. Ich weiß nicht, welcher Gunst ich es zu verdanken habe, dass ich den Schlächtern entronnen bin. Aber vielleicht«, fügte er nach einer kurzen Pause leise hinzu, »ist das Überleben ja auch keine Gunst, sondern eine Strafe.«

Erstmals schaute er auf. Nachdem er all das Schreckliche ausgesprochen hatte, das auf seiner Seele lastete, schien er sich stark genug zu fühlen, reihum zu blicken, in bleiche Mienen, die ihn mit einer Mischung aus Unglauben und Entsetzen anstarrten. »Ich wünsche niemandem von euch, jemals erleben zu müssen, was mir widerfahren ist. Über eintausend von unseren Leuten sind tot, dahingemordet in nur zwei Tagen. Das ist die traurige Nachricht, die ich euch bringe. Gott kann bezeugen, dass jedes einzelne Wort davon wahr ist.«

Das Schweigen, das sich über die Versammelten gebreitet hatte, war allumfassend. Mehr noch, die Zeit schien stillzustehen in diesem Augenblick, in dem auch dem letzten Ratsmitglied klar werden musste, dass die Regeln der alten Welt nicht mehr galten. Eine radikale Veränderung war vor sich gegangen und mit ungeheurer Grausamkeit über die Gemeinde von Mainz hereingebrochen.

Plötzlich bestand auch nicht mehr der geringste Zweifel daran, dass die Gerüchte aus Worms der Wahrheit entsprochen hatten, aber die Mehrheit der Ratsmitglieder war zu gefangen in ihrem eigenen Entsetzen, als dass sie zu logischen Schlussfolgerungen oder gar zu Selbstkritik fähig gewesen wären. Der unfassbare, jedoch durch einen Oberrabbiner verbürgte und daher glaubwürdige Mord an über eintausend Juden der Mainzer Gemeinde stand ihnen drohend vor Augen, und noch nicht einmal Mordechai Ben Neri konnte daran Zweifel haben. Und mit jedem Herzschlag, der seit dem ersten Schock verstrich, wandelte sich die Bestürzung der Ratsmitglieder in nackte Furcht und ließ die Ereignisse von Mainz zum grässlichen Menetekel werden.

»Emicho und seine Schergen, wo sind sie jetzt?«, fragte jemand zaghaft in die Stille.

»In Trier, soweit wir gehört haben«, antwortete Bar Levi, »und ihr nächstes erklärtes Ziel soll Köln sein. Die Kunde ihrer Bluttaten wird ihnen jedoch fraglos vorauseilen und womöglich auch jene ermutigen, die bereits innerhalb der Stadtmauern weilen.«

Unter den Ratsmitgliedern brach Unruhe aus. »Dann müssen wir fliehen!«, rief Daniel Mintz laut aus und sprach damit wohl den meisten aus dem Herzen. »Wir müssen die anderen Gemeinden um Hilfe ersuchen und uns und unsere Habe in Sicherheit bringen!«

Zustimmung wurde laut, vor allem die Vornehmen schienen dies für einen hervorragenden Einfall zu halten. Nicht einmal Mordechai widersprach. Bar Levi jedoch konnte ob solcher Einfalt nicht länger an sich halten und verlor die Beherrschung.

»Ihr Narren!«, rief er. »War es nicht genau das, was Ben Salomon und ich euch vorgeschlagen haben? Was ihr noch vor wenigen Tagen in aller Entschiedenheit abgelehnt und weswegen ihr ihn gar des unlauteren Wettbewerbs bezichtigt habt?«

Einige Ratsmitglieder fühlten sich ertappt und wichen den tadelnden Blicken des Vorstehers aus, andere begegneten ihnen in unverhohlenem Trotz. Auch Mordechai, obwohl ihm die Falschheit seines Handelns inzwischen aufgegangen sein musste, war offenbar nicht gewillt, dies einzugestehen.