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»Was wollt Ihr uns unterstellen, Parnes?«, rief er laut. »Dass wir nicht in bester Absicht gehandelt hätten?«

»Keineswegs«, konterte Bar Levi, aus dessen kleinen, zu Schlitzen verengten Augen Verachtung sprach. »Aber Eure Absichten galten mehr Eurem Besitz und Eurem eigenen Wohl denn dem der Gemeinde!«

»Das wollt Ihr mir unterstellen? Nachdem ich für den Großteil der Zahlung aufgekommen bin, die wir zum Schutz der Gemeinde an den Erzbischof entrichtet haben? Nach den weitreichenden Garantien, die Hermann uns dafür gegeben hat?«

»Habt ihr denn nicht zugehört?«, fragte der Vorsteher unwirsch dagegen, auf den Gast deutend, der wieder in die alte Lethargie zurückgefallen war. »Auch unsere Brüder in Mainz haben sich der Obhut des dortigen Erzbischofs anvertraut, und es ist ihnen schlecht vergolten worden. Womöglich, Ben Neri, hat Eure Selbstsucht uns alle in den Untergang geführt!«

Isaac fühlte, dass er eingreifen musste. Bislang hatte er geschwiegen und sich nicht an der Versammlung beteiligt, war vielmehr damit beschäftigt gewesen, die Folgen abzuwägen, die diese jüngsten Entwicklungen haben mochten. Nun jedoch sah er sich genötigt, das Wort zu ergreifen, denn der Rat war auf dem besten Weg dazu, auseinanderzubrechen. Wenn das geschah, gab es niemanden mehr, der sich für das Wohl der Gemeinde einsetzte und mit einer Stimme für sie sprach – und dazu durfte es in Zeiten wie diesen keinesfalls kommen. Auch Isaac war wütend, allerdings nicht so sehr auf den Grafen Emicho und seine Mordbrenner oder auf Mordechai und seine Anhänger, die sich jedem vernünftigen Argument verschlossen hatten und sich erst jetzt dem Druck der Notwendigkeit beugten; es war die menschliche Natur selbst, die dem alten Kaufmann zu schaffen machte und für die er bisweilen nur noch Abscheu empfand.

»Ich glaube nicht, meine Freunde«, rief er in die Runde, noch ehe Mordechai auf Bar Levis Vorwurf reagieren konnte, »dass wir uns darüber streiten sollten, wer Schuld an dieser Katastrophe trägt, zumal sie eindeutig bei denen zu suchen ist, die das Blutvergießen begonnen haben und brandschatzend durch die Lande ziehen. Was unser Volk jetzt mehr als alles andere braucht, ist Einigkeit und kluger Ratschluss.«

»Und das sagt ausgerechnet Ihr, Ben Salomon?« Mordechais Verblüffung war echt.

»Natürlich. Denn ich bin älter als Ihr und Euch um eine wesentliche Erfahrung voraus.«

»Was für eine Erfahrung?«

»Dass der Schrecken, der bisweilen unvorhergesehen in unser Leben eindringt, uns zu Veränderungen zwingt. Inzwischen habt offensichtlich auch Ihr dies erkannt, mein Freund, doch so sehr ich Eure Einsicht schätze, so sehr fürchte ich, dass sie zu spät kommt. Die Möglichkeit, andere Gemeinden um Zuflucht zu bitten, ist bereits verstrichen, denn bis die Boten, die wir entsenden, zurückgekehrt sind, wird der mörderische Feind die Stadt längst erreicht haben. Und wir sollten nicht …«

Er verstummte, als von draußen plötzlich Lärm zu hören war.

Das heisere Gelächter mehrerer Männer.

Der schrille Schrei einer Frau.

Das Klirren von Glas.

»Was ist da los?«, wollte Samuel, der Goldschmied, wissen.

Einen schrecklichen Augenblick lang starrten die Ratsmitglieder einander fragend an. Wieder war es still geworden in der Synagoge, nur die Laute von draußen waren weiter zu hören.

Derbes Gelächter.

Entsetzte Schreie.

»Es beginnt«, sagte jemand mit furchtbarer Endgültigkeit. Entsetzen ergriff von Isaac und den anderen Ratsmitgliedern Besitz, als sie erkannten, dass es kein anderer als Kalonymos Ben Meschullam war, der dies gesagt hatte.

»Was beginnt, Rabbi?«, fragte Elija, der Brotbäcker, einfältig.

»Sie haben Kunde von den Ereignissen in Mainz erhalten«, erklärte der andere mit erschreckendem Gleichmut. »Von den Nachrichten beflügelt, ahmen sie nach, was dort geschehen ist. Euch wird das gleiche Verderben ereilen, das auch uns getroffen hat.«

Einen Augenblick lang waren aller Augen auf Kalonymos gerichtet, während die schreckliche Erkenntnis wie ein Lauffeuer um sich griff.

Es war zu spät, um noch zu fliehen.

Das Verhängnis nahm bereits seinen Lauf.

In diesem Moment war erneut ein lauter Schrei zu hören, und etwas prallte mit derartiger Wucht gegen das Tor der Synagoge, dass die Ratsmitglieder zusammenzuckten. Wieder lachte jemand, und eine Frau rief mit tränenerstickter Stimme einen Namen.

Dann erneut ein Krachen – und das Eingangstor des Gotteshauses brach aus den Angeln. Trampelnde Schritte waren zu vernehmen, und im nächsten Moment wurde der Vorhang zum Innenraum der Synagoge aufgerissen und eine wilde Meute drängte herein.

Es waren zehn, vielleicht auch mehr.

Brutal aussehende, schmutzige Gestalten in derber Kleidung, die teils an Brust und Schulter mit Eisenringen verstärkt war. Einige von ihnen hielten blanke Klingen in den Händen, andere kurze Spieße, wie sie bei der Jagd verwendet wurden. Wieder andere schwenkten primitive Totschläger aus Holz, durch das lange Nägel getrieben worden waren. Ihre Gesichter waren rot vom Wein und vom Bier, das sie getrunken hatten, ihre Stimmen laut und grölend. Fraglos gehörten sie dem rohen Pöbel an, der sich seit geraumer Zeit in der Stadt versammelte. Und die Bosheit, die aus ihren Augen sprach, verhieß nichts Gutes.

»Seht euch das an!«, rief einer von ihnen, der sich offenbar zum Anführer ernannt hatte. »Da sitzen sie beisammen und zittern! Feiglinge sind sie, einer wie der andere, sonst würden sie sich nicht hier verkriechen wie die Ratten in ihrem Loch!«

Isaacs Innerstes verkrampfte sich, weniger der Beleidigungen wegen, die der Kerl von sich gab, sondern weil er den Hass der Schläger beinahe körperlich fühlen konnte. Selten zuvor hatte er mehr sinnlose Aggression vorgefunden, und ihm war klar, dass nur blanker Fanatismus der Grund dafür sein konnte.

Den anderen Ratsmitgliedern erging es nicht anders. Eben mochten die Schrecken, von denen der Mainzer Rabbiner berichtet hatte, noch fern gewesen sein – in diesem Moment wurden sie zur greifbaren Realität. Furcht verbreitete sich und zeigte unterschiedliche Gesichter: Erschrecken und Bestürzung, unverhohlene Ablehnung und heillose Panik. Es war unstrittig, dass zusammen mit den Fremden die nackte Todesangst in die Synagoge eingedrungen war.

Einige der Gemeinderäte sprangen entsetzt von ihren Sitzen auf, die daraufhin geräuschvoll umfielen. Andere zogen die Köpfe ein, als könnten sie so vermeiden, gesehen zu werden. Kalonymos Ben Meschullam jedoch deutete mit furchtgeweiteten Augen auf die Eindringlinge und schrie so laut, dass es von der hohen Kuppel widerhallte: »Es beginnt! Es beginnt von Neuem!«

Weder kannten ihn die Eindringlinge, noch konnten sie wissen, woher er kam und was er durchlitten hatte. Aber sie sahen die Verzweiflung in seinen Augen, und das gefiel ihnen. Einige von ihnen lachten derb, während der Anführer des Trupps seinen Spieß hob und damit quer über die mit Malereien verzierte Wand fuhr. Der Putz, der sich dabei löste, hinterließ eine hässliche Narbe in der Abbildung eines Adlers, der mit weit ausgebreiteten Schwingen dargestellt war und dem nun die Flügel gestutzt worden waren.

Isaac spürte, wie sich der erste Schrecken in Zorn verwandelte. Seine Hände, die sich so fest um die seitlichen Lehnen des Hockers geklammert hatten, dass das Weiße an den Knöcheln hervorgetreten war, begannen zu zittern, und er wollte sich erheben, um der mutwilligen Zerstörungswut Einhalt zu gebieten – doch Usija, der Gehilfe des Rabbiners, kam ihm zuvor.

»Nein!«, rief der junge Mann laut, der dem Rat erst seit kurzem angehörte. Die Kippa auf dem Haupt und die Arme beschwörend erhoben, trat er den Schlägern mutig entgegen.

»Was hast du, Heide?«, fragte der Wortführer, der schon dabei gewesen war, sich unter dem begeisterten Gegröle seiner Kumpane auf das nächste Gemälde zu stürzen. »Willst du dich beschweren?«