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»Brüder«, entgegnete Usija mit vor Aufregung bebender Stimme, »ich weiß nicht, was euer Eindringen in das Haus Gottes zu bedeuten hat, aber ich bitte euch …«

»Habt ihr gehört, Leute?«, fiel ihm der Anführer mit hämischem Grinsen ins Wort. »Er hat uns gerade ›Brüder‹ genannt.«

»Mir wird gleich schlecht«, behauptete ein anderer.

»… aber ich bitte euch, den Frieden im Hause des Herrn zu respektieren«, fuhr der Gehilfe des Rabbiners tapfer fort. »Die Synagoge ist ein Ort des Gebets und der Lehre. Natürlich steht es euch frei, ihn zu betreten, aber wenn ihr dies tut, dann ohne Waffen und in der Demut, die ihm gebührt.«

Das Geschrei der Eindringlinge war verstummt.

Aller Blicke hatten sich auf ihren Anführer gerichtet, gespannt, was dieser unternehmen würde.

Zunächst geschah nichts. Der Unruhestifter und der Gehilfe des Rabbiners standen einander gegenüber, und für einen Moment hatte es den Anschein, als wüsste der Schläger nicht, wie er reagieren sollte. Seine Augen, blutunterlaufen von zahllosen durchzechten Nächten, weiteten sich in schierem Unglauben, sein Mund, der ein fauliges Gebiss entblößte, klappte auf. Verstohlen schaute er nach seinen Leuten, die wiederum voller Erwartung auf ihn starrten. Nach all den großen Worten wollten sie von ihm Taten sehen – und er musste handeln, wenn er nicht als Maulheld dastehen wollte.

»Habt ihr das gehört, Leute?«, rief er deshalb effektheischend in die Runde. »Dieses elende Heidenschwein will uns vorschreiben, was wir zu tun haben! Als ob es nicht genügen würde, dass sie sich das Heilige Land unter den Nagel gerissen haben und kein Christenmensch mehr dort sicher ist, wollen sie uns jetzt auch noch sagen, was wir auf unserem eigenen Grund und Boden zu tun und zu lassen haben!«

Seine Leute bekundeten heiser ihre Empörung, und die Augen des Anführers wurden plötzlich kalt und dunkel wie die eines Raubtiers. Drohend trat er auf Usija zu, den Speer halb erhoben.

»Keineswegs«, versuchte der Gehilfe des Rabbiners sich zu rechtfertigen, während er unwillkürlich zurückwich, »ich möchte nur …«

Er verstummte jäh. Sein Mund blieb offen, seine Augen wurden glasig, und seine Robe färbte sich dunkel. Aber erst, als er nach vorn gekrümmt zu Boden fiel und die Ratsmitglieder die blutige Waffe in den Händen seines Mörders erblickten, begriffen sie, was geschehen war.

Entsetzen packte sie nun alle, selbst Isaac, der geglaubt hatte, auf alle Schrecken gefasst zu sein. Panisch sprangen auch noch die letzten von ihren Sitzen auf, wichen zur Wand zurück und drängten sich Schutz suchend aneinander, einer Herde verschreckten Viehs nicht unähnlich.

Ihre Peiniger freilich wurden dadurch noch ermutigt. Hohnlachend und mit erhobenen Waffen rückten sie vor, sprangen auf die Bima und entweihten das Podium, auf dem die Thora verlesen wurde, indem sie mit ihren schmutzigen Stiefeln darüberstampften.

»Schluss mit diesem Unfug!«, riefen sie dabei.

»Nieder mit den Heiden!«

»Die längste Zeit habt ihr unsere Städte verseucht und unsere Brunnen vergiftet!«

Und noch ehe Akiba, der Rabbiner, Bar Levi oder irgendjemand sonst begriff, welchen Frevel die Eindringlinge planten, hatten sie auch schon den Thoraschrein erreicht. Ein Aufschrei des Entsetzens gellte durch den Innenraum der Synagoge, zu mehr waren die eingeschüchterten Ratsmitglieder nicht mehr fähig. Hilflos schauten sie zu, wie der Anführer des Trupps und zwei seiner Kumpane die samtene Schutzhaube entfernten, ihre ruchlosen Hände an die Schriftrollen legten und sie unter hellem Gelächter herausrissen. Dann entrollten sie sie, warfen sie auf den Boden und trampelten darauf herum.

Rabbi Akiba verfiel in lautes Wehgeschrei, und es bedurfte der vereinten Kräfte Jakob Lachischs und Daniel Mintz’, ihn daran zu hindern, sich mit bloßen Fäusten auf die Frevler zu stürzen.

Auch Isaac Ben Salomon konnte sich nicht länger beherrschen – und anders als der Rabbiner wurde er von niemandem zurückgehalten.

»Mörder! Diebe!«, rief er. »Feinde des Herrn!«

»Was war das?« Der Anführer der Bande fuhr herum. Seine Raubtieraugen blitzten Isaac gefährlich an. »Hast du etwas gesagt, Alter?«

»Ich sagte, dass ihr Mörder und Diebe seid und Feinde des Allmächtigen«, wiederholte Isaac. Die anderen Ratsmitglieder warfen ihm warnende Blicke zu, aber es war zu spät. Seine blutige Waffe in den Händen, die Zähne gefletscht wie ein Wolf, kam der Rädelsführer auf ihn zu.

»Offenbar«, knurrte er lauernd, »ist noch nicht genug Blut geflossen heute Nacht. Hier scheint es jemanden zu geben, der seine Lektion noch nicht gelernt hat.«

»Was für eine Lektion? Dass Christen ohne Reue einen Unschuldigen töten können?«, fragte Isaac ungerührt.

Der andere stand jetzt dich vor ihm, musterte ihn aus seinen hasslodernden Augen. »Keineswegs – sondern dass unser Glaube dem euren weit überlegen ist.«

»Abgesehen von einer Meute Bewaffneter, die eine Gruppe wehrloser Männer bedrohen, kann ich keine Überlegenheit erkennen«, konterte Isaac mit einer Ruhe, die ihn selbst verwunderte. Zu seiner eigenen Überraschung empfand er kaum Furcht, was wohl daran lag, dass ihm so viel genommen worden war. Womöglich sehnte ein Teil von ihm sogar das Ende herbei, wartete nur darauf, dass der andere zustoßen und seiner Trauer ein Ende setzen würde.

»Sei vorsichtig, was du sagst, Alter«, riet ihm der andere, »oder willst du ebenfalls mit durchbohrter Brust enden?« Er senkte den Speer und richtete ihn auf Isaac, doch dieser machte keine Anstalten, zurückzutreten oder dem Stoß auszuweichen. Womöglich hätte im nächsten Moment auch ihn das spitze Eisen durchbohrt, wäre nicht jemand beherzt dazwischengetreten.

»Haltet ein und bedenkt, was Ihr tut!«

Der Judenhasser, dessen tumber Geist darauf ausgerichtet gewesen war, zum zweiten Mal in dieser Nacht zu töten, schaute den Mann, der unvermittelt hinzugetreten war, verständnislos an.

Es war Mordechai Ben Neri.

»Haltet ein«, sagte der Kaufmann aus der Enggasse noch einmal. »Ich bin sicher, dass wir diese Angelegenheit bereinigen können.«

»Wie meinst du das?«, fragte der Mörder.

»Natürlich könntet Ihr den Alten mit Leichtigkeit töten, was einen Krieger Eurer Kraft und Größe keinerlei Anstrengung kosten würde«, fuhr Mordechai fort, die Furcht, die er fraglos empfand, geschickt hinter der Fassade seiner undurchschaubaren Züge verbergend. »Einbringen würde es Euch allerdings wohl auch nichts. Lasst Ihr ihn hingegen am Leben, so will ich Euch zehn Silberstücke geben, gleich hier und jetzt.«

Isaac stand wie erstarrt vor Verblüffung. Zum einen, weil er niemals erwartet hätte, dass Mordechai Ben Neri sich für ihn einsetzen würde. Zum anderen, weil der Anführer der Schläger tatsächlich ins Grübeln geriet. Wieder schielte er nach seinen Leuten, während er offenbar abzuwägen schien, was ihm größeres Ansehen eintragen würde – klingende Münze oder der Mord an einem weiteren Juden …

»Zehn Silberstücke?«, fragte er.

»Ganz recht.«

Der Mund des Judenhassers verzog sich zu einem grausamen Grinsen.

»Was sollte mich daran hindern, Euch einfach niederzustechen und mir das Geld zu nehmen?«

»Euer Verstand. Heute Nacht trage ich nicht mehr als jene zehn Silberstücke bei mir, die ich Euch in Aussicht gestellt habe. Schon morgen jedoch bin ich womöglich bereit, das Doppelte zu bezahlen, wenn es um mein eigenes Leben geht.«

Mit einer Mischung aus Abscheu und Spott schaute der Mordbrenner ihn an. Dann ließ er unvermittelt den Speer sinken, und sein Grinsen wurde so breit, dass sein Gesicht fast auseinanderzufallen schien. Er hielt die Hand auf, und Mordechai legte ohne zu zögern die zehn Silberstücke hinein, die er in einem Beutel bei sich trug.

Dann brüllte der Anführer einen heiseren Befehl, und seine Leute und er verließen das Gotteshaus so plötzlich, wie sie eingedrungen waren. Die Thora jedoch nahmen sie mit, um weiter Schindluder damit zu treiben. Wie eine Beute hielten sie die hölzernen Rollen hoch und schleiften das handbeschriebene Pergament hinter sich her, das bereits an vielen Stellen gebrochen und eingerissen war. Wie erstarrt wohnten die Ratsmitglieder der Entweihung bei, während ihr Verstand noch immer zu begreifen suchte, was soeben geschehen war.