Выбрать главу

Vergeblich, wie Conwulf vermutete.

Den Griff seines Schwertes fest umfassend, zwang er sich, an etwas anderes zu denken, während er atemlos weiterrannte. Der Auftrag, den das Schicksal ihm erteilt hatte, musste erfüllt werden, um jeden Preis, denn sein Ausgang mochte über Wohl und Wehe entscheiden, nicht nur von Christen, von Juden oder von Sarazenen, sondern über das aller Kinder Gottes.

Ein jeder der vier Gefährten, die an jenem Morgen im Jahr des Herrn 1099 den Weg zum Tempelberg beschritten, fühlte, dass noch ungleich mehr auf dem Spiel stand als das Schicksal einer einzelnen Stadt. Denn während auf den Zinnen und Wehrgängen der Kampf um Jerusalem die entscheidende Wendung genommen hatte, war ein anderer Konflikt, dessen Ursprung weit in die Vergangenheit reichte, bis an den Anbeginn der Zeit, noch längst nicht entschieden.

1.

Drei Jahre zuvor

London Mai 1096

Es war kühl an diesem Morgen.

Harscher Wind strich von Osten heran, und die zähen Nebelschwaden, die während der Nacht über dem Fluss gelegen hatten, krochen die Uferbänke herauf und in die Gassen der Stadt.

Die ersten, die sich auf dem Richtplatz einfanden, waren die Krähen. Ihr sicheres Gespür dafür, wann und wo es etwas zu fressen gab, lockte sie zu der Wiese, die sich östlich der Stadt erstreckte, zwischen dem hingeworfenen Gewirr der strohgedeckten Häuser und der steinernen Mauer, die vom Fluss gen Norden verlief und noch aus römischer Zeit stammte. Kreischend ließen sich die Vögel auf dem grob gezimmerten Galgenbaum nieder und warteten. Fünf Silhouetten, die sich unheimlich im Nebel abzeichneten, schwarzen Todesboten gleich – bis ein Stein durch die Luft flog und eine von ihnen traf.

Während die anderen Tiere aufschreckten und davonflatterten, kippte die getroffene Krähe rücklings von ihrem hohen Sitz und stürzte auf die morschen Planken. Vergeblich versuchte sie, ihre Schwingen auszubreiten und ihren Artgenossen zu folgen – der Stein hatte ihr einen Flügel gebrochen. Aufgeregt kreischend rannte sie im Kreis, solange, bis ein weiterer Steinwurf sie traf und vom Podest des Galgens fegte.

Johlendes Gelächter war die Folge. Der Straßenjunge, der den Stein mit einer primitiven Schleuder geworfen hatte, riss triumphierend die Arme empor, und seine Kumpane, die alle ebenso zerlumpt, schmutzig und abgemagert waren wie er selbst, beglückwünschten ihn zu dem Meisterschuss. In neugieriger Erwartung des Ereignisses, das sie an diesem frühen Morgen zu sehen bekommen würden, setzten sie sich in das noch feuchte Gras rings um den Galgenbaum.

Sie blieben nicht lange allein.

Weitere Schaulustige – Bauern, Mägde und Tagelöhner, aber auch Handwerker und Händler – fanden sich auf der Henkersweide ein. Unter den wenigen Zerstreuungen, die das Leben den einfachen Leuten bot, war eine Hinrichtung immer noch die aufregendste. Und wenn es, wie an diesem Tag, auch noch eine belustigende Angelegenheit zu werden versprach, dann war dies umso besser. Je mehr Menschen kamen und je höher die Sonne über den Saum des Waldes stieg, der sich jenseits der Stadtmauer erstreckte, desto begieriger blickte jeder Einzelne zu der großen Burg, die südlich des Richtplatzes aufragte und dem König als Herrschersitz diente, sofern er nicht in Winchester oder an anderen Orten des Reiches weilte.

Schon unter seinem Vater William war der Bau begonnen worden, der die alte Römermauer miteinbezog, nach Norden und Westen jedoch von hölzernen Palisaden umgeben war. Inmitten der Ummauerung war im Lauf der vergangenen Jahre ein gewaltiger Turm aus Stein in die Höhe gewachsen, der im Vergleich zu den gedrungenen Häusern der Stadt so trutzig und einschüchternd wirkte, dass man ihn schlicht nur den »Turm von London« nannte. Mehr als fünfzehn Mannslängen maß er bereits, und er war noch immer nicht fertiggestellt – ein weiteres Monument normannischer Baukunst, von denen es in England inzwischen so viele gab, steingewordener Beleg dafür, dass die Eroberer vom Festland ihre Beute niemals wieder aufzugeben gedachten.

Nur die wenigsten Bürger von London wussten, wie es jenseits der Mauern und Palisaden der Burg aussah. Aber wie es hieß, war der große Turm mit allem nur denkbaren Prunk ausgestattet: einer großen Halle, die den Soldaten und Hausbediensteten als Unterkunft diente, und einer weiteren, darüberliegenden, in der der König Hof hielt und seine Getreuen empfing. Sogar eine eigene Kapelle gab es, in der der Herrscher dem Allmächtigen huldigte und in der sein Kaplan Ranulf von Bayeux zum vergangenen Osterfest eine Heilige Messe abgehalten hatte. Zahlreiche Edle des Landes waren zu diesem Anlass nach London gekommen, wohl nicht nur Gott, sondern vor allem dem König zu Ehren, wie Conn feixend vermutete.

Er verstand nicht viel von solchen Dingen, und sie waren ihm auch einerlei. Der Herr, so seine Erfahrung, half jenen, die sich selbst zu helfen wussten – vorausgesetzt, er hatte überhaupt ein Ohr für die Elenden und Niedrigen, die Armen und Unfreien, die in den Gassen der Stadt ein schäbiges Dasein fristeten. Sie vermochten weder die Bibel zu lesen wie die Mönche der Abtei von Westminster, noch konnten sie Kirchen und Klöster stiften wie die normannischen Edlen, um sich ihr Seelenheil zu erwerben. Alles, was ihnen blieb, war das Hier und Jetzt, und das war hart genug – über die Ewigkeit, das war Conns Überzeugung, konnte er sich auch später noch den Kopf zerbrechen.

Inmitten eines weiteren Pulks von Schaulustigen kam er auf der Henkersweide an. In seiner schäbigen Kleidung mit den wollenen, an zahllosen Stellen ausgebesserten Hosen und der löchrigen, von einem Strick zusammengehaltenen Tunika unterschied er sich in nichts von den übrigen Zaungästen, die die angekündigte Hinrichtung auf den Plan gerufen hatte. Eine Gugel bedeckte sein vom langen Winter noch dunkelblondes Haar, das ihm bis in den Nacken reichte, ein verwilderter Kinnbart verbarg seine Jugend. Das blaue Augenpaar jedoch, das unter der Kapuze hervorlugte, blickte nicht in sensationslüsterner Neugier wie bei den anderen, sondern voller Wachsamkeit.

Inzwischen hatte sich der Richtplatz mit Menschen gefüllt. Conn schätzte, dass es gut dreihundert Zuschauer waren, die sich eingefunden hatten, um Tostigs letzten Gang zu begaffen. Aufgeregt tuschelten sie miteinander, lachten und deuteten nach dem Galgen, an dem der glücklose Dieb in Kürze baumeln würde.

Als sich das Nordtor der Burg öffnete, wurde es schlagartig still auf dem Platz. Das Getuschel und das raue Gelächter verstummten, und zwei bewaffnete Wachen traten hervor, gefolgt von einem Mann, der hoch zu Ross saß. Er trug einen Helm mit Nasenschutz und einen wollenen Umhang, um sich vor der Kälte des Morgens zu schützen. Die silberne Fibel, die das Kleidungsstück hielt, erweckte Conns Aufmerksamkeit, aber mit Blick auf die beiden Wachen und das normannische Langschwert, das griffbereit in der Scheide des Reiters steckte, verwarf er den Gedanken gleich wieder.

Sofort bildete sich in der Menge der Schaulustigen eine Gasse, die den Reiter und seine Männer passieren ließ. Ihnen folgte ein Ochsenkarren, wie er gewöhnlich zum Heutransport benutzt wurde. Darauf kauerte eine verloren wirkende Gestalt, der man ein Eisen um den Hals gelegt hatte.

Tostig.

Tostig der Eierdieb, wie er spöttisch genannt wurde, weil sein Mut nie dazu ausgereicht hatte, sich an etwas anderem zu vergreifen als an ein paar Rüben oder Eiern, um seinen hungrigen Bauch zu füllen. Vor ein paar Tagen jedoch hatte er Äpfel von einem Karren gestohlen, der auf dem Weg zur Burg gewesen war. Und wer seine Hand an das Eigentum des Königs legte, den traf die härteste Strafe.