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Er schaute ihr zu, wie sie wieder an die große Schrank­truhe trat und ihr diesmal ein silberbeschlagenes Kästchen entnahm, um es ebenfalls in den Koffer zu legen. Er spürte einen schmerzhaften Stich im Herzen, als er die Schatulle erkannte.

»Die Halskette deiner Mutter«, murmelte er. »Sie wollte, dass du sie eines Tages trägst.«

»Und deshalb werde ich sie nicht zurücklassen«, sagte Chaya entschlossen und strich sich eine Strähne ihres langen schwarzen Haars aus dem Gesicht. »Sie soll nicht Plünderern in die Hände fallen.«

»Wäge wohl, was du behältst und was du zurücklässt. Du kannst nicht alles mit dir nehmen.«

»Sicher nicht. Aber Mutters Kette werde ich ihnen ganz sicher nicht überlassen.« Prüfend musterte sie den Inhalt der Truhe, dann hob sie den Deckel, schloss ihn und schob den Riegel vor. »Glaubst du denn, dass wir auf den Besitzungen des Bischofs sicher sein werden?«

Isaac seufzte. Noch in der Nacht hatte eine Abordnung des Gemeinderats, der neben dem Parnes, dem Rabbiner und Mordechai Ben Neri auch er selbst angehört hatte, bei Erzbischof Hermann vorgesprochen und ihm von dem Vorfall in der Synagoge und vom Mord am Gehilfen des Rabbiners berichtet. Der Erzbischof, ein gemäßigter Mann, der der Idee des großen Pilgerzugs zwar nicht abgeneigt, jedoch den Frieden in seiner Stadt wahren zu wollen schien, hatte sich tief erschüttert gezeigt. Mordechai hatte die Gunst des Augenblicks genutzt, um im Namen der Gemeinde Zuflucht auf den außerhalb der Stadt gelegenen bischöflichen Gütern zu erbitten. Dorthin, so hofften sie, würden Emichos Mordbrenner nicht gelangen, und zu aller Erleichterung hatte Hermann ihrem Ansinnen entsprochen.

»Ich weiß es nicht«, gab Isaac zu, »aber ich weiß, dass Mordechai in bester Absicht gehandelt hat, vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben. Ohne sein Verhandlungsgeschick und seine guten Beziehungen zum Bischofspalast hätte es für die Gemeinde wohl keine Hoffnung gegeben.«

Chaya verzog das Gesicht. »Er wird keine Gelegenheit auslassen, uns darauf aufmerksam zu machen. Nur gut, dass du zur Stelle sein wirst, um ihn daran zu erinnern, dass es nicht immer so gewesen ist.«

»Das würde ich gerne, meine Tochter. Bedauerlicherweise ist mir dies nicht möglich.«

»Nein? Warum nicht, Vater?«

»Weil ich dann nicht mehr da sein werde«, entgegnete der alte Kaufmann schlicht, so als wäre es nur eine Nebensache. Aber Chaya kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass sich gerade hinter dieser demonstrativen Beiläufigkeit oft umwälzende Neuigkeiten verbargen.

Sie fühlte, wie ihr Gesicht heiß und ihr Nacken eiskalt wurde. »Was soll das heißen, Vater?« Sie ahnte, dass ihr seine Antwort nicht gefallen würde.

»Das heißt, dass ich nicht mit euch gehen werde«, eröffnete Isaac ohne Umschweife, jedoch mit unverändertem Tonfall.

Chaya stand wie vom Donner gerührt.

Den ganzen Morgen über war sie so mit ihren eigenen Dingen beschäftigt gewesen, dass sie kaum Gelegenheit gehabt hatte, auf ihren Vater zu achten. Nun allerdings ging ihr auf, dass er die ganze Zeit über seltsam untätig gewesen war und von seiner persönlichen Habe nichts eingepackt hatte. Plötzlich befiel sie Angst.

»Keine Sorge«, antwortete er auf ihre unausgesprochene Frage. »Ich habe nicht vor, in der Stadt zu bleiben und darauf zu warten, dass Emicho und seine Mordbrenner mir das Haus über dem Kopf anzünden. Aber ich werde nicht mit euch gehen, sondern einen anderen Ort aufsuchen.«

»Einen anderen Ort?« Chayas Verwirrung wurde nur noch größer. »Was heißt das? Wohin willst du gehen, Vater?«

»Es geht um ein Versprechen, das ich vor sehr langer Zeit gegeben habe, Chaya. Noch vor deiner Geburt.«

»Was für ein Versprechen?«

»Dies zu offenbaren ist mir nicht erlaubt«, erklärte er ernst. »Es geht dabei um eine geheime Mission, die ich im Auftrag der Gemeinde zu erfüllen habe und die mich weit fort von Köln führen wird, zurück ins Land unserer Väter.«

Chaya erschrak. »Du willst nach Judäa gehen?«

Ihr Vater nickte. »Ich fürchte, so ist es.«

»Dann werde ich dich begleiten.«

»Das kannst du nicht, meine Tochter.«

»Warum nicht? Auf früheren Reisen habe ich dich oft begleitet, weißt du nicht mehr?«

»Aber nicht dieses Mal«, erwiderte er in einem Tonfall, der keinen Zweifel an seiner Entschlossenheit aufkommen ließ. Chaya wusste, dass ihr Vater eine solche Entscheidung nicht leichtfertig getroffen hatte; was er ihr mitteilte, war das Ergebnis eines langen Prozesses, in dessen Verlauf er alle Möglichkeiten gewissenhaft gegeneinander abgewogen hatte. Entsprechend endgültig war seine Entscheidung.

»Aber in den letzten Jahren hast du kaum noch Reisen unternommen«, wandte sie dennoch ein wenig hilflos ein. »Du hast gesagt, du würdest allmählich zu alt dafür, und hast es lieber deinem Prokuristen überlassen, bei Händlern und Lieferanten vorstellig zu werden.«

»Das habe ich. Vielleicht, weil ich ahnte, dass diese eine große Fahrt noch vor mir lag und ich meine Kräfte schonen musste. Außerdem handelt es sich bei dieser Mission nicht um eine gewöhnliche Handelsreise.«

»Und das Kontor?«

»Darum werden sich andere kümmern. Ich habe entsprechende Vorkehrungen getroffen.«

»Vorkehrungen«, wiederholte Chaya. Sie konnte nicht anders, als sich verletzt zu fühlen, übergangen. In all den Wochen, die seit dem Tod ihrer Mutter vergangen waren, hatte sie stets versucht, ihren Vater zu unterstützen, hatte sich bemüht, ihm zur Seite zu stehen, wann immer er ihres Trostes und ihrer Nähe bedurft hatte. Und nun stellte sich heraus, dass er Pläne hegte, in denen sie noch nicht einmal vorkam!

»Und was ist mit mir?«, wollte sie deshalb wissen, auch wenn ihr klar war, dass es nicht die Art Frage war, die eine gehorsame Tochter ihrem Vater stellte. In diesen Tagen war die alte Ordnung ohnehin dabei, sich aufzulösen, warum also sollte sie weiter daran festhalten?

»Du brauchst mich nicht mehr, mein Kind«, antwortete er und blickte ihr mit entwaffnender Offenheit in die Augen. »In der letzten Zeit bin ich dir ohnehin mehr Last als Nutzen gewesen.«

»D-das ist nicht wahr, Vater!«

»Nein?« Er lächelte schwach. »Deine Worte ehren dich, Chaya – auch wenn sie nicht der Wahrheit entsprechen. Glaubst du, ich wüsste nicht, wie sehr der Tod deiner Mutter auch dich getroffen hat? Dennoch war ich nicht in der Lage, dir Trost oder auch nur ein wenig Zuspruch zu geben, denn der Schmerz hielt mich gefangen, sosehr, dass mir alles andere gleichgültig wurde. Ich habe mich der Trauer hingegeben und dabei nur an mich gedacht, habe dich und andere ungerecht behandelt.«

»Wenn es so war, dann nur, weil du Mutter mehr als irgendjemanden sonst geliebt hast.« Sosehr es Chaya einerseits besänftigte, dass er um die Opfer wusste, die sie für ihn gebracht hatte, sosehr missfiel es ihr, ihn so sprechen zu hören, denn es stachelte ihre Furcht nur noch mehr an.

»Nein, Chaya«, widersprach er abermals. »Sondern weil ich wusste, dass ich deiner Mutter in all der Zeit, da sie ihr Leben mit mir teilte, nie gezeigt habe, wie viel sie mir bedeutete. Schlimmer noch, bisweilen habe ich ihr das Gefühl gegeben, sie nicht zu brauchen – dabei ist es in Wahrheit umgekehrt gewesen. Und genauso ist es auch bei dir – nur dass ich es heute erkenne.«

»Mutter hat dich geliebt, Vater. Und auch ich liebe dich …«

»Und aus diesem Grund kann ich nicht anders, als mich auf diese Mission zu begeben, gleich wie gefährlich sie sein oder wie weit sie mich fortführen mag.«

»Das verstehe ich nicht.« Chaya schüttelte den Kopf. »Wie kann diese Mission wichtiger als deine Familie sein?«

»Von meiner Familie«, erwiderte er, während er seine Hand ausstreckte und sie zärtlich am Kinn berührte, »bist nur noch du übrig, meine Tochter. Und natürlich habe ich für dich vorgesorgt.«