»I-ich danke Euch«, sagte Conn vorsichtig. Es war das erste Mal in seinem Leben, dass ein Normanne ihm eine Wohltat erwiesen hatte. Entsprechend ungläubig schaute er den Fremden an.
»Wie ist dein Name?«, fragte dieser mit tiefer Stimme.
»Mein Name?«
Der Einäugige nickte. »Einen Namen wirst du doch haben, oder?«
»Conwulf«, stellte Conn sich zögernd vor.
»Conwulf also. Demnach bist du Angelsachse?«
»Hätte es etwas geändert, wenn Ihr das früher gewusst hättet?«
Das Lächeln des Fremden veränderte sich, wurde nachsichtig, fast milde. »Für andere vielleicht«, gab er zu. »Für mich nicht.«
Conns innere Verkrampfung löste sich ein wenig, der Schmerz in seinem Arm nahm schlagartig ab. Eigentlich, dachte er, war es ganz bequem auf dem Lager, das aus einem Strohsack bestand, der in einem von hölzernen Säulen getragenen Anbau zum Schankraum auf dem Boden lag, Seite an Seite mit weiteren Schlafstätten, die an erschöpfte Wanderer vermietet wurden. Den Habseligkeiten nach zu urteilen, die dazwischen am Boden lagen oder an rostigen Wandhaken aufgehängt waren, waren alle Betten belegt; sein normannischer Retter schien das Lager unmittelbar neben seinem zu besetzen. Am Haken hing ein mit Nasenschutz versehener Helm, auf den schmutzigen Dielen lag ein zusammengerolltes Bündel, in dem Conn ein Kettenhemd zu erkennen glaubte. Daneben lehnte ein Langschwert an der Wand, das in einer einfachen Lederscheide steckte. Der Fremde war, wie Conn mit erneut aufkeimendem Unbehagen feststellte, also Soldat.
»Mein Name ist Baldric«, verkündete der Einäugige. »Meine Gefährten und ich«, er deutete auf einige Gestalten, die an einem benachbarten Tisch saßen und eine einfache Mahlzeit einnahmen, »warten auf das Signal.«
Conn streifte die Benannten mit einem Seitenblick. Einige von ihnen trugen Rüstzeug, andere nicht. Aber soweit er es feststellen konnte, waren sie alle Normannen. »Welches Signal?«, wollte er wissen.
»Zur Einschiffung. Wir sind auf dem Weg zum Festland.«
»Zum Festland«, wiederholte Conn flüsternd. Den größten Teil seines bisherigen Lebens hatte er in London verbracht, ohne je auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, wie es an anderen Orten aussehen mochte. Erst Nia hatte seine Sehnsucht nach der Ferne geweckt, indem sie ihm von der Größe und Weite ihrer Heimat erzählt hatte und von der Freiheit, die es dort gab.
Die Erinnerung an sie schmerzte ihn noch ungleich mehr als der verletzte Arm. Tränen traten ihm in die Augen, die Baldric freilich missdeutete. »Du kennst die Normandie?«, fragte er.
»Nein.« Conn schüttelte den Kopf.
»Dann wirst du sie kennenlernen.«
»Sie – kennenlernen?« Conn starrte den Normannen an, als zweifelte er an seinem Verstand. »Was meint Ihr damit?«
»Damit meine ich, dass du uns begleiten wirst.«
»In die Normandie?«
Baldric lächelte, diesmal nicht ohne Spott. »Natürlich nicht, Dummkopf. Rouen ist nur die erste Station unserer Reise. Dort werden wir uns mit anderen Pilgern vereinen und weiterziehen. Das Heilige Land ist das eigentliche Ziel unserer Fahrt.«
»D-das Heilige Land?« Conn kam sich vor wie ein Idiot. Obwohl der Normanne akzentfreies Englisch sprach, hatte er das Gefühl, kein Wort zu verstehen.
»Hast du denn nichts von der großen Wallfahrt gehört, zu der seine Heiligkeit der Papst uns alle aufgerufen hat? Vom Pilgerzug ins Gelobte Land, dem ein jeder, ob arm oder reich, sich anschließen soll? Von den heiligen Stätten, die aus heidnischer Hand befreit werden sollen, zu Gottes Lob und der Menschen Ruhm?«
»Nein«, erwiderte Conn, obwohl das nicht ganz der Wahrheit entsprach. Er erinnerte sich, dass bei der Unterredung, deren unfreiwilliger Zeuge er geworden war, über derlei Dinge gesprochen worden war. Aber sein Innerstes war zu sehr in Aufruhr gewesen, als dass er diesen Dingen Bedeutung beigemessen hätte. Die Mächtigen und Reichen sprachen unablässig von Belangen, die weit außerhalb der Welt eines einfachen Diebes lagen. Baldrics Begeisterung jedoch schien das keinen Abbruch zu tun.
»Ein jeder Kämpfer, der sich aufmacht, um die heiligen Stätten zu befreien, und der dabei sein Leben lässt, bekommt seine Sünden erlassen«, fuhr er fort. »Ist das nicht ein Grund, für den zu kämpfen und zu sterben sich lohnt?«
Conn verzog das Gesicht. Um sein Seelenheil hatte er sich nie besonders viele Gedanken gemacht, und inzwischen war es ihm nahezu gleichgültig geworden. Immer wieder tauchten Nias gepeinigte Züge vor seinem inneren Auge auf, und er hatte das Gefühl, vor Schmerz und Trauer zu vergehen. »Das Leben ist Strafe genug, Herr«, sagte er leise. »Ich habe keine Sünden begangen, die mir vergeben werden müssten.«
»Glaubst du das wirklich?« Das gesunde Auge des Normannen blickte ihn prüfend an. »Was hattest du dann im Fluss zu suchen, verwundet und mit einem normannischen Pfeil im Arm?«
»Ich …« Conn biss sich auf die Lippen. Zum einen, weil sein Entsetzen über die Geschehnisse noch zu groß war, um passende Worte dafür zu finden. Zum anderen konnte er ja schlecht zugeben, aus der königlichen Burg geflohen zu sein.
»Das ist genau die Erwiderung, die ich erwartet habe«, sagte Baldric mit freudlosem Lächeln. »Ich stelle dich also vor die Wahl.«
»Vor welche Wahl?«, fragte Conn verwundert.
»Dich entweder unserer Wallfahrt anzuschließen und auf diese Weise Buße zu leisten für deine Vergehen, oder noch in dieser Nacht den Soldaten der Garnison übergeben zu werden, die sicher wissen werden, was sie mit dir anzustellen haben«, entgegnete der Pilger ohne Umschweife.
»Das könnt Ihr nicht tun!«, rief Conn aufgebracht.
»Warum nicht? Da es dem Allmächtigen gefallen hat, mich zur rechten Zeit am rechten Ort sein zu lassen, stehst du in seiner Schuld ebenso wie in meiner.«
»Von wegen«, widersprach Conn entschieden und voller Schmerz. »Gott hat mir alles genommen, was mir im Leben etwas bedeutet hat. Ich schulde ihm also nicht das Geringste.«
»Wir alle stehen in Gottes Schuld, mein Junge. Und wir alle haben etwas zu sühnen.«
»Ich nicht«, versicherte Conn trotzig.
»Ist das dein letztes Wort?«
Conn schluckte sichtbar. Bittere Entschlossenheit sprach aus Baldrics kantigen Zügen und dem einen Auge. Der Normanne mochte ihm das Leben gerettet haben, aber zweifelsohne würde er nicht zögern, ihn den Burgwachen zu übergeben, und dann würde ihn dasselbe traurige Ende ereilen wie den glücklosen Tostig. Wenn er erst am Galgen hing, endete damit auch jede Chance, Nias Tod zu rächen, und Guillaume de Rein würde ungeschoren davonkommen.
Andererseits, was erwartete ihn, wenn er auf Baldrics Angebot einging? In seinem ganzen Leben war Conn noch keinem Normannen begegnet, dem er hätte vertrauen können – warum sollte ausgerechnet dieser eine Ausnahme machen?
»Ich kenne Euch nicht, und Ihr kennt mich nicht«, sagte er deshalb. »Ihr wisst noch nicht einmal, was ich getan habe.«
»Nein«, gab Baldric zu. »Aber ich weiß, dass Gott dir aus einem bestimmten Grund das Leben geschenkt hat – und dass du es nicht einfach wegwerfen, sondern für ein höheres Ziel einsetzen solltest.«
»Das hatte ich vor«, versicherte Conn vieldeutig.
»Das bezweifle ich nicht. Die Frage ist nur, ob du deine unsterbliche Seele dabei gewonnen oder verloren hättest. Wenn du mir folgst und für die heilige Sache streitest, wirst du sie in jedem Fall gewinnen.«
»Ich bin kein Kämpfer.«
Der Einäugige lächelte schwach. »Doch, mein Junge – du weißt es nur noch nicht. Hätte der Herr dich nicht mit dem Herz eines Kämpfers bedacht, hättest du die letzten Tage nicht überlebt.«
»Tage?«, hakte Conn nach.
»Fünf, um genau zu sein.« Der Normanne grinste. »An den ersten beiden Tagen warst du mehr tot als lebendig. Du lagst in schwerem Fieber, und ich glaubte schon, wir würden dich verlieren. Aber Gott scheint noch mehr mit dir vorzuhaben, Junge, deshalb hat er dich auf wunderbare Weise erhalten und deinen Zustand gebessert.«