Conn wusste nichts darauf zu erwidern.
Dass er fünf Tage lang ohne Bewusstsein gewesen war, war ein Schock für ihn. Demnach lag Nias Tod schon fast eine Woche zurück. Vermutlich war sie längst beerdigt worden, verscharrt auf dem Todesacker der Unfreien und Namenlosen.
»Dass du den Plan nicht kennst, den Gott für dich gefasst hat, bedeutet nicht, dass es keinen gibt«, schärfte Baldric ihm ein.
»Und Ihr …« Conn schürzte die spröden Lippen. »Ihr werdet mich nicht den Wachen übergeben?«
»Nicht, wenn du dich uns anschließt und mich als mein Diener begleitest. Du hast mein Wort darauf.« Baldric streckte ihm seine Rechte hin.
Conn zögerte noch immer, schon weil er keine Ahnung hatte, worauf er sich einließ. Dann jedoch musste er wieder an seine Verfolger denken. Und an Nia, an das letzte Gespräch mit ihr, an die Freiheit, die sie gemeinsam hatten suchen wollen, und an das Versprechen, das er ihr gegeben hatte – und zu seiner eigenen Bestürzung wurde er Zeuge, wie er den unverletzten Arm hob und die Hand des Normannen ergriff, um die Abmachung zu besiegeln. Etwas unerwartet Beruhigendes ging von der Berührung aus, das Conns inneren Aufruhr ein wenig beschwichtigte.
»Unser Handel gilt also«, stellte Baldric fest.
»Er gilt«, bestätigte Conn und richtete sich halb auf seinem Lager auf. »Aber sobald ich die Schuld getilgt habe und Ihr mich aus Euren Diensten entlasst, werde ich nach England zurückkehren und tun, was ich tun muss. Auch Ihr könnt mich davon nicht abhalten.«
»Natürlich«, antwortete Baldric nur, und plötzlich hielt er ein Stück Stoff in den Händen, das er Conn reichte.
Es war ein Kreuz, das aus zwei schmalen Streifen roten Samts behelfsmäßig zusammengenäht worden war.
»Was ist das?«, wollte Conn wissen.
»Das Zeichen, das du auf deiner Kleidung tragen wirst. Das Symbol deiner Bußfertigkeit.«
»Ich habe nichts zu büßen. Das sagte ich Euch schon.«
Die Stimme des Normannen nahm einen düsteren Tonfall an. »Wir alle haben etwas zu büßen, Sohn«, sagte er leise. »Jeder Einzelne von uns.«
14.
Köln
2. Juni 1096
Die Wasseroberfläche war spiegelglatt.
Im Schein der Fackel, die in der Wandhalterung steckte und flackerndes Licht spendete, betrachtete Isaac sein Ebenbild – eine sehnige, ausgemergelte Gestalt, deren Rückgrat gebeugt war, nicht nur von den Jahren, sondern auch von der Last der Verantwortung, die ihm übertragen worden war.
Wie das Ritual es verlangte, hatte er sich aller Kleider entledigt. Nackt, wie er in die Welt gekommen war, würde er sich der reinigenden Wirkung des Wassers aussetzen, würde ganz darin eintauchen, um als geläuterter Mensch emporzusteigen und so der Ehre würdig zu sein, die ihm zuteil geworden war. Es gab viel, das er von sich abzuwaschen, das er hinter sich zu lassen hatte, ehe er jene heilige Mission antrat, auf die Bar Levi ihn schicken wollte.
Die Trauer um sein Weib Miriam.
Den Schmerz über ihren Verlust.
Die Furcht, die ihn seither plagte.
Die Zweifel, sein eigenes Handeln betreffend.
Die Schuldgefühle gegenüber Chaya, seiner Tochter.
All dies lastete zentnerschwer auf ihm. Ihm war klar, dass er die Reise nicht würde antreten können, wenn er solche Bürden noch zusätzlich zu tragen hatte. Im innigen Wunsch, der Herr möge ihm seine Versäumnisse nachsehen und ihn reinwaschen von Schuld, stieg er die Stufen hinab in das Becken der Mikwe.
Das Wasser war so kalt, dass es ihm den Atem raubte. Je tiefer er hinabstieg, desto weiter kroch es an ihm empor, sorgte dafür, dass seine alten Knochen schmerzten und sein müdes Fleisch sich verkrampfte. Dennoch ging er unbeirrt weiter, so als wollte er sich selbst dafür bestrafen, dass er, unwürdig wie er war, dazu ausgewählt worden war, den kostbaren Schatz zu verwahren.
Endlich hatte er den Grund des Beckens erreicht.
Das Wasser reichte ihm jetzt bis zu den Hüften, und er fror so erbärmlich, dass er die wenigen Zähne klappern hörte, die das gnädige Alter ihm gelassen hatte. Dennoch zwang er sich dazu, die Knie zu beugen, und indem er die Augen schloss und die Luft anhielt, tauchte er ganz in das eiskalte Nass ein. Schlagartig war es still um ihn herum.
Fern waren alle Ängste und Zweifel, und als würde das Wasser sich schützend um ihn türmen wie einst die Fluten des Roten Meeres um das Volk Israel, verblasste selbst die Bedrohung durch den herannahenden Feind. Für einen Moment, den der alte Kaufmann in sich aufsog, als wollte er ihn in alle Ewigkeit bewahren, schien alles in vollkommenem Gleichgewicht, Wasser und Luft, Fleisch und Blut.
Dann jedoch kam unweigerlich der Augenblick, in dem seine schwachen Lungen ihn verrieten. Die Stille endete, und indem er sich vom Grund des Beckens erhob, kehrte Isaac Ben Salomon zurück an die Oberfläche und zu der Pflicht, die ihn dort erwartete.
Noch einen Moment verharrte er, am ganzen Leib zitternd. Dann strich er das nasse weiße Haar zurück und machte kehrt, stieg aus dem kalten Wasser, wobei er seine Glieder mit aller Macht dazu zwingen musste, ihm zu gehorchen. Er hatte nicht geglaubt, das Land der Väter noch einmal zu erblicken, aber die Geschehnisse dieser Tage erforderten, dass er sich noch ein letztes Mal auf große Fahrt begab. Ob er sein Ziel jemals erreichen würde, lag in Gottes Hand, aber er wollte zumindest nichts unversucht lassen, um das Versprechen zu erfüllen, das er einst gegeben hatte, so wie sein Vater vor ihm.
Ein Leinentuch, das auf den Stiegen bereitlag, diente ihm dazu, sich abzutrocknen. Sodann schlüpfte er wieder in seine Kleider, aber weder das Untergewand noch die Kaufmannsrobe noch der weite Mantel, den er darüber trug, vermochten die Kälte aus seinen Gliedern zu vertreiben. Isaac betrachtete dies als Teil der reinigenden Buße, und es bestärkte ihn in seinem Willen, das Begonnene zu vollenden.
Entschlossen stieg er die restlichen Stufen hinauf und verließ das Bad, das sich zwischen der Synagoge und der Bäckerei Elija Rabbans erstreckte. Vorbei am Gotteshaus, das seit jenem Vorfall von einer Schar Freiwilliger bewacht wurde, die sich mit Prügeln und Dolchen bewaffnet hatten und einer Meute gepanzerter Soldaten gleichwohl nur wenig entgegenzusetzen gehabt hätten, passierte er den öffentlichen Brunnen und bog in den Torweg ein, wo sich das Haus Daniel Bar Levis befand.
Inzwischen hatte sich der Tag fast dem Ende geneigt. Viele hatten ihre Häuser bereits verlassen, die Läden waren verschlossen und die Eingänge standen leer. Allenthalben waren Gestalten zu sehen, die Handkarren hinter sich herzogen oder hölzerne Lastgestelle trugen, dazu verschleierte Frauen, die ihre Kinder an den Händen führten. So, dachte Isaac bekümmert, musste es gewesen sein, als sich Israel auf die vierzigjährige Wanderschaft durch die Wüste begeben hatte. Damals allerdings hatte das Volk das Unrecht der Knechtschaft hinter sich gelassen und dabei Gott auf seiner Seite gewusst – diesmal kam es dem Kaufmann eher so vor, als würde die Zeit der Erniedrigung erst beginnen, was ihn mit tiefer Sorge erfüllte, zumal er sich unsicher war, was den Schutz des Höchsten betraf.
Bar Levis Haus befand sich am äußersten Rand der Judengasse. Aus diesem Grund hatte der Parnes hölzerne Verschläge an den zur Straße gewandten Fenstern anbringen lassen, um sich und seine Familie vor Feindseligkeiten zu schützen. Ein Ochsenkarren stand vor der Tür, den die beiden Diener des Vorstehers mit Kisten beluden. Ester, Bar Levis Ehefrau, stand dabei und erteilte ihnen Anweisungen. In dem Augenpaar, das unter dem Schleier hervorblickte, war Furcht zu lesen wie in so vielen Gesichtern an diesem Tag.
»Friede mit Euch«, grüßte Isaac und neigte leicht das Haupt.