Выбрать главу

»Friede auch mit Euch, Isaac Ben Salomon«, erwiderte die Frau des Parnes. »Geht nur ins Haus. Mein Mann erwartet Euch bereits.«

Isaac bedankte sich mit einem Nicken, dann trat er unter dem niedrigen Türsturz hindurch ins Innere. Infolge der verschlossenen Fenster, die das späte Tageslicht aussperrten, waren Kerzen entzündet worden. Strenger Geruch erfüllte die Luft, der von Bitterkräutern rührte. Diese waren als Zeichen der Demut und wohl auch als Bitte für eine sichere Rückkehr in jenes Heim verbrannt worden, das Bar Levis Familie fast über ein ganzes Jahrhundert hinweg Schutz und Zuflucht gewährt hatte. In einer Zeit zu leben, in der sich all dies änderte, bedrückte Isaac auf eine Weise, die er nicht in Worte zu fassen vermochte. Es war das Gefühl, dem Sturmwind der Geschichte ohnmächtig ausgeliefert zu sein und nichts dagegen unternehmen zu können – mit einer Ausnahme, auch wenn sie auf altersschwachen Schultern lastete …

Isaac kannte Bar Levis Haus.

Oft hatten sie dort zusammengesessen, hatten koscheren Wein getrunken und Sabbatbrot gegessen. Isaac hatte das Heim des Vorstehers als einen Ort des Glücks und der Zufriedenheit erlebt, dessen Ordnung und Sauberkeit die innere Ausgeglichenheit seines Besitzers widerspiegelten. An diesem Tag jedoch war alles anders. Kisten standen umher, die Schränke waren geöffnet und nach Dingen durchsucht worden, die man den Plünderern nicht überlassen wollte, Wertgegenstände natürlich, aber auch solche, deren Bedeutung nicht auf den ersten Blick ersichtlich, sondern persönlicher Natur war und die man ebenfalls nicht blindwütiger Zerstörungswut preisgeben wollte.

Bar Levis Kinder, acht an der Zahl, tobten aufgeregt durch die Unordnung. Für die jüngeren, die noch nicht fähig waren, den Ernst der Lage zu begreifen, stellten die eingetretenen Veränderungen ein großes Abenteuer dar. Die älteren freilich, unter ihnen Daniels Erstgeborener Rehabeam, trugen die Sorge der Erwachsenen mit. In ihren Gesichtern stand dieselbe Todesangst, die auch die Älteren in diesen Tagen erfasst hatte.

Trotz der herrschenden Unordnung und der bevorstehenden Abreise begrüßte Rehabeam den Gast in aller Höflichkeit. Der Junge, dessen Bar Mitzwah nunmehr fünf Jahre zurücklag, verbeugte sich tief vor dem Gast und reichte ihm eine tönerne Schüssel mit Wasser, in der er sich die Hände waschen konnte. Dann führte er ihn zu seinem Vater.

Daniel Bar Levi saß in seinem Arbeitszimmer. Der größte Teil der Bücher und Aufzeichnungen, die der Parnes sein Eigen nannte, war bereits entfernt und in Kisten verpackt worden. Der Blick, mit dem er die Eintretenden bedachte, machte Isaac klar, dass der Vorsteher ihn bereits erwartet hatte.

»Friede mit Euch, Isaac.«

»Friede auch mit Euch, Daniel.«

»Wisst Ihr, dass ein Teil von mir fürchtete, Ihr würdet nicht kommen?«

»Diesen Teil gab es auch in mir«, gestand Isaac offen. Er war zu alt, und es stand zu viel auf dem Spiel, um sich etwas vorzumachen. »Aber er hat sich als der schwächere erwiesen. Hätte es Gott gefallen, mir einen Sohn zu schenken, so hätte ich ihm die Bürde übertragen, wie es mein Vater einst bei mir tat. So wie die Dinge liegen, bin ich jedoch mit keinem männlichen Nachkommen gesegnet, und auch ein Schwiegersohn blieb mir verwehrt.«

Bar Levi nickte. »Bislang. Aber wie zu hören ist, soll sich dies bald ändern.«

»Mordechai Ben Neri ist gewiss nicht meine erste Wahl«, gab Isaac zu, der sich nicht weiter darüber wunderte, dass der Vorsteher der Gemeinde bereits von der geplanten Hochzeit wusste. Mordechai war nie sehr zurückhaltend gewesen, wenn es darum ging, Neuigkeiten zu verbreiten, die ihn in einem guten Licht erscheinen ließen. »Aber er vermag meiner Tochter das zu geben, was mir in diesen Tagen wichtiger erscheint als alles andere, nämlich Schutz und Sicherheit.«

»Er hat viel für unsere Gemeinde getan. Mehr als ich für möglich gehalten hätte. Dennoch bin ich froh darüber, dass Ihr geht, mein Freund, und nicht er.«

»Jeder dient dort, wo er es am besten kann«, entgegnete Isaac ausweichend. Natürlich hatte er darüber nachgedacht, Mordechai als seinen designierten Schwiegersohn in das Geheimnis einzuweihen und ihm die Aufgabe zu übertragen, die er selbst in jungen Jahren übernommen hatte. Aber ein Gefühl – und er vermochte nicht zu sagen, ob es ein Fingerzeig Gottes war oder aus seiner tiefsten Seele drang – sagte ihm, dass Mordechais Platz hier war, bei seiner Familie und seiner Gemeinde, und dass er kein Recht hatte, ihm diesen Platz zu nehmen. Auch dann nicht, wenn es bedeutete, das Liebste, das ihm auf Erden geblieben war, zurückzulassen und in die Obhut seines einstigen Gegners geben zu müssen.

»Eine kluge Entscheidung«, sagte der Parnes, als könnte er Isaacs Gedanken lesen. »Ihr habt recht gehandelt.«

»Eine Entscheidung voller Schmerz. Selbst das lebendige Wasser konnte ihn nicht abwaschen.«

»Das war auch nicht zu erwarten, mein Freund«, meinte der andere mit nachsichtigem Lächeln. »Aber die Läuterung durch das Bad der Mikwe wird Euch helfen, zurückzulassen, was Euch bindet, und Euren Geist ganz auf die Aufgabe zu konzentrieren, die vor Euch liegt. Die Schrift muss unversehrt nach Antiochia gelangen und ihre Bestimmung erfüllen. Nur zu diesem Zweck wurde sie uns überlassen.«

»Ich weiß.«

»Auf diesen Moment wurdet Ihr vorbereitet, alter Freund, für diesen Augenblick habt Ihr gelebt. Fast beneide ich Euch um die Mission, die Euch übertragen wurde.«

»Es steht Euch frei, mich zu begleiten«, sagte Isaac und konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen.

»Wie Ihr schon sagtet – jeder dient dort, wo er es am besten kann«, entgegnete der Parnes ohne Zögern und wechselte das Thema. »Wisst Ihr schon, auf welcher Route Ihr reisen werdet?«

»Auf der westlichen. Mein Ziel wird Genua sein, wo ich ein Schiff nach Judäa besteigen werde. Mit Gottes Hilfe werde ich das Land unserer Väter noch vor dem Winter erreichen.«

»Dann möge Euch diese Hilfe in reichem Maße beschieden sein, mein Freund«, erwiderte Bar Levi und verließ seinen Platz am Stehpult, wo er noch einige Notizen gemacht hatte. Mit bedachten Schritten durchmaß er den Raum und trat an eine große Truhe aus Akazienholz, die mit reichen, orientalisch anmutenden Schnitzereien versehen war. »Kommt«, verlangte er.

Isaac leistete der Aufforderung Folge und fühlte sich weder wie ein alter Mann noch wie jemand, der im Begriff war, eine große Bürde auf sich zu nehmen. Vielmehr kam es ihm vor, als wäre er wieder jener zwölfjährige Junge, der den Worten seines sterbenden Vaters lauschte, vor undenklich vielen Jahren. Und fast kam es ihm vor, als könnte er in der Stille von Bar Levis Arbeitszimmer die vertraute Stimme hören.

Ihr werdet euer Leben leben, so wie ich das meine gelebt habe, hatte sie gesagt, werdet Familien gründen und Kinder haben. Über den Geschäften und Sorgen des Alltags werdet ihr bisweilen vergessen, was einst gewesen ist, und womöglich, wenn es dem Herrn gefällt, wird euer Leben zu Ende gehen, so wie das meine nun zu Ende geht, ohne dass er diese große Pflicht von euch gefordert hat. Vielleicht aber werden einst auch Zeiten kommen, die alles verändern, und auf diese Zeiten müsst ihr vorbereitet sein.

Mit pochendem Herzen trat auch Isaac an die Truhe. Er wusste, dass es sein Schicksal war, das hier auf ihn wartete. Bar Levi, der die Anspannung des Freundes spürte, hob rasch den Deckel.

Die Truhe war leer.

»Was habt Ihr?«, erkundigte sich der Parnes lächelnd, als Isaac zusammenzuckte. »Habt Ihr erwartet, etwas in dieser Truhe zu erblicken?«

»Offen gestanden, ja«, gab Isaac zu.

»Dann seht noch einmal genauer hin, alter Freund. Eure Augen mögen Euch täuschen, aber nicht Euer Glaube.« Damit griff der Vorsteher der Kölner Gemeinde in die Truhe, steckte den Zeigefinger in etwas, das wie ein harmloses Astloch aussah, und zog daran – und Isaac begriff, dass die Kiste einen doppelten Boden hatte.