Der Grund der Truhe klappte empor, und das Licht der Kerzen fiel auf den Gegenstand, der im Sockel verborgen gewesen war, schlank und zylindrisch, etwa eine Elle lang und eine halbe Handspanne breit, genauso, wie Isaac ihn trotz all der Jahre in Erinnerung hatte.
Obwohl er wusste, dass dies nur das Behältnis war, das das eigentliche Artefakt enthielt, wurde er von Ehrfurcht ergriffen. Denn in das hart gegerbte Leder war das Zeichen eingebrannt, das jenem König zugeschrieben wurde, der das noch junge Reich Israel einst zur Blüte geführt und den Ersten Tempel errichtet hatte: zwei gleichseitige, in ihrer Form vollendete Dreiecke, die ineinander verschränkt waren und zusammen einen sechszackigen Stern ergaben.
Das Siegel Salomons.
Auf dem Weg zu seinem Haus schalt sich Isaac für den eitlen Stolz, den er empfand, während er den Köcher unter seinem Mantel trug. »Behaltet ihn stets bei Euch, bei Tag und bei Nacht«, hatte Bar Levi ihm eingeschärft, »und lasst ihn niemals aus den Augen. Nach allem, was geschehen ist, bedarf unser Volk seines Inhalts mehr als je zuvor in seiner langen Geschichte.«
Dann hatten die beiden Freunde sich voneinander verabschiedet, wissend, dass sie einander in diesem Leben wohl nicht mehr begegnen würden. Andere Mächte hielten nun ihr Schicksal in den Händen.
In Gedanken versunken, ging Isaac durch die verlassenen Straßen. Wie genau er zum Kontor zurückgelangte, wusste er später nicht mehr zu sagen. Eindrücke von verbarrikadierten Eingängen und in Dunkelheit liegenden Gassen begleiteten ihn, aber er nahm sie nicht wirklich wahr. Den Behälter fest an sich gepresst, passierte er die Eingangstür und stieg die Stufen zur Wohnung hinauf, wohl zum letzten Mal in seinem Leben. Die wenige Habe, die er auf die lange Reise mitnehmen wollte, hatte er bereits gepackt. Er durfte nicht länger säumen. Nur noch eines gab es zu tun, eine letzte Aufgabe, die ihm schwerer fallen würde als alle anderen.
Gott um Verzeihung bittend, dass er so kurz nach dem Besuch der Mikwe die Last des Verzweiflung schon wieder spürte, betrat er Chayas Kammer – um entsetzt zurückzufahren, als er statt seiner geliebten Tochter einen fremden Mann darin erblickte.
Der Kerl wandte ihm den Rücken zu. Er trug ein weites Gewand und eine Kippa auf dem Haupt und war damit beschäftigt, eine Schranktruhe zu durchwühlen. An der Schnelle und Leichtigkeit seiner Bewegungen und der Art, wie er sich bückte, erkannte Isaac, dass es sich um einen jungen Burschen handeln musste, vielleicht sechzehn oder siebzehn Winter alt. Sein erster Gedanke war, dass Rehabeam ihm gefolgt sein könnte. Natürlich war das Unsinn, und der Kaufmann fühlte, wie ihm heißer Zorn in die Adern schoss.
»Bursche!«, rief er laut und sprang vor, um sich ungeachtet seines Alters und seiner klammen Glieder auf den Eindringling zu stürzen. »Reicht es denn nicht, dass in diesen Tagen alle Welt unser Feind geworden ist? Musst du dich auch noch am Elend deines eigenes Volkes bereichern?«
Der Angesprochene fuhr herum, noch ehe Isaac ihn erreichte. Dabei löste sich die Kippa, rutschte von seinem Kopf und entblößte ein kahlgeschorenes Haupt. Die Rasur war erst vor kurzem durchgeführt worden und offenbar in aller Eile, denn an einigen Stellen war die Kopfhaut blutig und wund. Die erbleichten Züge darunter starrten den Kaufmann voller Erschrecken an – und er stieß einen lauten Schrei aus, als ihm klar wurde, dass er dieses Gesicht kannte.
»Chaya! Was bei allen Propheten …?«
Isaacs Bestürzung war abgrundtief. Seine Blicke zuckten in hilfloser Unruhe umher, suchten nach Sinn und Erklärung.
Er sah ihr Kleid achtlos hingeworfen auf dem Bett liegen.
Die langen Strähnen schwarzen Haars auf dem Boden.
Abgeschnitten.
»Was … was hast du getan?«, stieß er keuchend hervor, kopfschüttelnd wie jemand, der sich weigerte, das Offensichtliche zu begreifen.
»Ich habe gehandelt, Vater«, erwiderte Chaya. Ihre gebeugte Körperhaltung, in der sie sich bis zur Wand zurückzog, verriet Demut. In ihren dunklen Augen jedoch schwelte die Flamme des Widerstands.
»Sag, bist du von Sinnen?« Noch einmal betrachtete Isaac das wunderschöne Haar auf den Dielen. Noch vor kurzem hatte es die Anmut ihrer Züge umrahmt, nun lag es dort wie Abfall.
»Nein, Vater«, widersprach sie leise. Ihre Stimme bebte, aber es war nicht der hysterische Tonfall von jemandem, der den Verstand verloren hatte oder noch dabei war, ihn zu verlieren. »Ich sehe die Dinge sehr viel klarer als zuvor. Ich habe getan, was du mich immer gelehrt hast – ich habe nachgedacht und eine Entscheidung getroffen.«
»Eine Entscheidung?« Er sah sie verständnislos an, noch immer zu entsetzt, um sich einen Reim auf all dies zu machen. »Eine Entscheidung worüber?«
»Über mein Leben. Ich weiß, dass ich es nicht an der Seite von Mordechai Ben Neri verbringen möchte, und ich hoffe und bete, dass du mich nicht dazu zwingen wirst.«
»Aber was willst du dann tun?«
»Ich werde dich begleiten«, erklärte sie mit jener sanften Endgültigkeit, die auch aus dem Munde ihrer Mutter hätte kommen können.
»Mich begleiten?«
»Ins Land der Väter. Als kleines Mädchen hast du mir versprochen, dass du mich einmal dorthin mitnehmen würdest. Nun ist es so weit.«
»Das … das ist nicht möglich.« Isaac schüttelte den Kopf, während er sich gleichzeitig an den Behälter klammerte, den er unter seinem Mantel verborgen hielt, wie ein Ertrinkender an ein Wrackteil, als einen letzten Rest vermeintlicher Sicherheit, der ihm inmitten einer tosenden See geblieben war.
»Warum nicht, Vater?« Erstmals schwang ein Anflug von Trotz in ihrer Stimme mit. »Wegen der Gefahren, die einer Frau auf einer solchen Reise drohen?« Sie lachte freudlos auf. »Sie können kaum verderblicher sein als hier.«
»Mordechai«, ächzte Isaac tonlos. »Er wird sich um dich kümmern, dich beschützen. Ich habe alles geplant …«
»Aber ich will den Schutz Mordechais nicht! Ebenso wenig wie seine Zuneigung. Und ich danke dir für deine Voraussicht und Fürsorge, Vater. Aber das Leben geht oft andere Wege, als wir sie planen, oder hast du das schon vergessen?«
»Nein, das habe ich nicht, aber ich …«
Er verstummte, um den Gedanken zu lauschen, die ihn lärmend umkreisten. So sehr ein Teil von ihm geneigt war, jenen inneren Stimmen Gehör zu schenken, die ihm zuriefen, er solle dem Ansinnen seiner Tochter entsprechen und sich glücklich schätzen, dass ihm der schmerzliche Abschied von ihr erspart blieb, so sehr mahnten ihn andere dazu, seiner Pflicht zu gehorchen und seine alleinige Aufmerksamkeit der Bürde zu widmen, die ihm übertragen worden war. Immer lauter schienen sie zu rufen, sodass er einen lauten Schrei ausstoßen musste, um sich ihrer zu entledigen.
»Genug!«
Chaya, die diesen Ausbruch missdeutete, zuckte erschrocken zusammen. Als jedoch keine weiteren Rügen folgten, wurde ihr klar, dass es nicht Zorn war, der ihren alten Vater die Fassung verlieren ließ, sondern pure Ratlosigkeit.
»Lass mich dir zwei Fragen stellen, Vater«, sagte sie deshalb ruhig in die entstandene Stille.
Isaac, der reglos vor ihr stand, die Arme um den hageren Körper geschlungen, betrachtete ihr bleiches, haarloses Antlitz mit trübem Blick. »Was für Fragen?«, wollte er dann wissen. Es klang müde.
Chaya nahm einen tiefen Atemzug, ehe sie antwortete. Dabei schaute sie ihrem Vater tief in die traurigen Augen. »Nicht einmal du als mein leiblicher Vater hast mich erkannt, als du in diese Kammer tratst. Wie also sollen andere erkennen, was ich in Wahrheit bin, wenn ich in dieser Verkleidung reise?«
»Und die zweite Frage?«
»Was«, entgegnete Chaya und deutete auf ihr kahles und blutiges Haupt, »wird Mordechai Ben Neri sagen, wenn er seine zukünftige Ehefrau so erblickt?«
15.
Rouen