August 1096
Etwas war geschehen, das Conn niemals für möglich gehalten hätte. Er hatte England verlassen.
Der Abschied von seiner alten Heimat war so schlicht verlaufen wie das Leben, das er dort geführt hatte. Nach ein paar weiteren Tagen im Hafen von London hatten er, Baldric und dessen Normannenfreunde schließlich ein Schiff bestiegen, das sie den Fluss hinabgebracht hatte. Von Rochester aus waren sie nach Dover marschiert. Über karge, von Ginster und Moos bewachsene Hügel und entlang an steilen Klippen, die die Farbe von gebleichten Knochen hatten und jenseits derer sich die See als stahlblaues Band bis zum Horizont erstreckte.
Nur hin und wieder, wenn der bewölkte Himmel aufriss und die Sicht sich klärte, waren in der Ferne graue Schleier zu erkennen gewesen, die die See und den Himmel teilten, kaum mehr als eine ferne Ahnung. Dies, so hatte man ihm mitgeteilt, war das Festland. Jene Gegend, von der aus der Eroberer vor nunmehr drei Jahrzehnten aufgebrochen war, um England seinem Herrschaftsbereich zu unterwerfen.
Die Normandie.
Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Conn nicht geahnt, wie unendlich groß die Welt jenseits der Mauern, Äcker und Wälder von London war. Angesichts der Düsternis, die noch immer in seinem Herzen herrschte und die wie ein dunkler Schatten auf ihm lag, war es ihm jedoch gleichgültig geworden. Mit Nia an seiner Seite wäre er bereit gewesen, die Welt zu erobern – ohne sie war alles trist und leer, und er empfand nichts, als sie am frühen Morgen des vierten September eine normannische Knorr bestiegen, die sie von der Insel weg und aufs Festland brachte.
In dichtem Nebel sah Conn die weißen Klippen von England verschwinden. Dann erfasste die graue See das Langboot und trug es der Normandie entgegen – und einer ungewissen Zukunft.
Während der Überfahrt sprach Conn kaum ein Wort. Da er ihm klar gemacht hatte, dass er keinen Diener wollte, der in Lumpen ging, hatte Baldric ihn noch in London mit neuen, an den Unterschenkeln geschnürten Hosen, einem wildledernen Rock sowie einem wollenen Umhang ausgestattet, auf dessen Schulter er den Schneider das Kreuzsymbol hatte anbringen lassen. In diesen Umhang gehüllt, kauerte Conn hinter der hohen Back des Schiffes und kämpfte gegen die Übelkeit an, die ihn erfasste, als die Knorr auf offener See zum Spielball der Wellen wurde.
Irgendwann – Conn vermochte nicht zu sagen, ob es vom Seegang rührte oder von den schrecklichen Bildern, die ihm Tag und Nacht vor Augen standen – hielt er es nicht mehr aus und entleerte den Inhalt seines Magens geräuschvoll in die See, sehr zur Erheiterung Baldrics und seiner normannischen Gefährten, die sich wie er als Freiwillige der großen Pilgerfahrt anschließen wollten.
Zu den treuesten Begleitern des Einäugigen gehörte dabei ein gewisser Bertrand, ein redseliger Geselle von geringer Körpergröße, dafür aber umso beträchtlicherem Umfang, der sich zu seiner Vorliebe für angelsächsisches Ale bekannte und eine gewisse Tragik darin sah, dass er es nun für lange Zeit nicht mehr zu schmecken bekommen würde; der Name des anderen Getreuen war Remy, ein wahrer Bär von einem Mann, dessen Schädel so kahl und glattpoliert war wie ein Kampfhelm und der, ganz im Gegensatz zu seinem gedrungenen Freund, den Mund nur dann aufmachte, wenn es sich nicht vermeiden ließ.
Von Valmont aus, wo das Schiff wohlbehalten anlandete, ging es weiter nach Rouen, in die alte Hauptstadt der Normandie, von der aus William der Bastard einst zu seinem Eroberungsfeldzug aufgebrochen war.
Der Anblick der Stadt überwältigte Conn.
Bislang hatte er London, die bei Weitem größte und bedeutendste Stadt in ganz Südengland, für das Maß aller Dinge gehalten. Doch als er das mächtige, mit einem Fallgitter versehene Stadttor von Rouen durchschritt, wurde ihm klar, wie einfältig er gewesen war. Und obwohl es ihm zutiefst widerstrebte, begriff er, weshalb die normannischen Herren mit derartigem Hochmut auf England und seine Bewohner blickten.
In London war die Existenz eines mehrstöckigen Gebäudes so außergewöhnlich, dass alle es nur den »Großen Turm« nannten; in Rouen hingegen gab es zahllose Häuser, die mehr als ein Stockwerk besaßen, und anders als zu Hause waren sie nicht aus Holz und Lehm, sondern aus festem Stein errichtet. Nicht nur einzelne Kathedralen reckten hier ihre Türme gen Himmel, sondern unzählige Gebäude, Türme und Hallen, doch sie alle verblassten im Vergleich zu der mächtigen Burg, die die Stadt wie ein großer, schützender Berg überragte.
Gedränge herrschte in den Straßen, die zumeist gepflastert waren und auch bei Regen noch sicheren Tritt boten. Die Läden, die sich in den unteren Stockwerken der Häuser drängten, verkauften Waren in einer Fülle und Auswahl, wie Conn sie nie für möglich gehalten hätte: Stoffe in seltenen Farben und Felle von Tieren, die er nie zuvor gesehen hatte, dazu Töpferwaren, Körbe, Schleifsteine, Werkzeuge und andere Gegenstände des täglichen Gebrauchs; sorgfältig gearbeitete Waren aus Leder und Speckstein sowie Gefäße aus buntem Glas; und schließlich Wein und Gewürze, die eigenartigen Duft verströmten und eine erste Ahnung von jener Fremde verbreiteten, in die die Männer im Begriff waren aufzubrechen.
Wie sich zeigte, waren Baldric und seine Schar bei Weitem nicht die einzigen, die nach Rouen gekommen waren, um sich dem Zug ins Heilige Land anzuschließen. Auch aus anderen englischen Städten waren Freiwillige eingetroffen, dazu kamen Dänen, Flamen, fränkische Söldner und viele mehr – ein unvorstellbares Durcheinander aus verschiedenen Haut- und Haarfarben, Kleidern, Rüstungen und Sprachen. Dennoch gelang es Baldric irgendwie, in einer Taverne im Herzen der Stadt eine Unterkunft zu besorgen, und zum ersten Mal in seinem Leben schlief Conn in einem gemauerten Haus.
Anfangs konnte er kein Auge zutun und kam sich vor wie lebendig begraben, aber schon nach kurzer Zeit hatte er sich daran gewöhnt. Baldric begann damit, ihn in die Pflichten einzuweisen, die ihm als seinem Diener zukommen würden. Dazu gehörte neben dem Besorgen von Proviant und anderen Dingen auch das Reinigen und Instandsetzen seiner Ausrüstung, die sich in einem schlechten Zustand befand. Helm und Kettenhemd hatten Rost angesetzt, Untergewand und Gurtzeug mussten an vielen Stellen ausgebessert werden. Zwar war Conn weder ein Schmied noch ein Sattler, aber er hatte hin und wieder zugesehen, wenn die Handwerker in London ihrer Arbeit nachgegangen waren, und so gab er sein Bestes – wobei es nicht selten vorkam, dass Baldric ihm das Werkzeug abnahm und selbst Hand anlegte. Im Gegenzug zu den Diensten, die er für ihn leistete, unterrichtete Baldric Conn in der französischen Sprache und brachte ihm bei, ein Schwert zu führen, auch wenn es vorerst nur stumpf und aus Holz geschnitzt war.
Da der Normanne nur selten über sich sprach, war Conn auf Vermutungen angewiesen, was seinen neuen Herrn betraf. Aus dem wenigen, das er in Erfahrung gebracht hatte – das meiste hatte er von Bertrand aufgeschnappt –, schloss er, dass Baldric ein normannischer Edler war, wenn auch von geringem Rang und entsprechend schwach begütert. Ein eigenes Lehen schien er nicht zu haben, sein Pferd und sein Sattel waren, von Rüstung und Waffen abgesehen, seine einzigen Besitztümer. In der Tat machte er den Eindruck von jemandem, der den weltlichen Dingen entsagt und sich Höherem zugewandt hatte.
Wenn andere Normannen, allen voran der feiste Bertrand, ihr Geld in den Tavernen für Wein und Bier ausgaben, war Baldric ebenso wenig dabei wie dann, wenn sie es in die Freudenhäuser trugen, um – so nannten sie es – ein letztes Mal zu sündigen, ehe der große Ablass ihnen alles verzieh. Auch schienen die Beweggründe seines Handelns andere zu sein als die der übrigen Freiwilligen, die aus England gekommen waren. Während die meisten von Abenteuerlust getrieben waren und sie die Aussicht auf reiche Beute mindestens ebenso lockte wie jene auf das Himmelreich, ging es Baldric offenbar wirklich darum, sein Seelenheil wiederzufinden, das ihm irgendwo auf der Reise seines Lebens abhanden gekommen war. Was seine Vergangenheit betraf, hüllte sich der Normanne in Schweigen, aber hin und wieder, wenn er sich unbeobachtet glaubte, sah Conn, wie sich düstere Schatten auf seine Züge legten. In solchen Momenten erweckte der Normanne den Anschein, nicht weniger von den Geistern der Vergangenheit gejagt zu werden als Conn selbst.