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Mit jedem Tag, den sie länger in Rouen weilten, fanden sich mehr Kreuzfahrer ein. Die Straßen füllten sich ebenso wie die Tavernen, sodass die Stadt schließlich aus allen Nähten zu platzen drohte und die Neuankömmlinge vor den Toren lagern mussten. In den Herbergen hieß es, eng zusammenzurücken, und nicht selten kam es vor, dass sich zwei Kämpfer ein Lager teilten und es abwechselnd während der ersten und zweiten Nachthälfte nutzten.

Viele, die in die Stadt kamen, fassten Proviant und ergänzten ihre Ausrüstung, sodass Pökelfleisch und Rüstzeug schon bald Mangelware waren und zu hohen Preisen gehandelt wurden. Einige der Männer behalfen sich, indem sie ihr Glück beim Würfeln versuchten, sodass an vielen Feuern gespielt wurde, was immer wieder auch zu Streitigkeiten führte und noch zusätzlich zu der fiebrigen Unruhe beitrug, die ohnehin schon über der Stadt lag.

Auch Conn blieb davon nicht unberührt.

Das geschäftige Treiben und der auch bei Nacht nicht endende Lärm erinnerten ihn an einen wimmelnden Bienenstock, und trotz der Düsternis in seinem Herzen ertappte er sich dabei, dass die allgemeine Anspannung auch ihn ergriff.

Was, so fragte er sich, würde die Kreuzfahrer erwarten? Wohin würde die Reise gehen? Welche exotischen, weit entfernten Orte würde er mit eigenen Augen sehen, die er bislang, wenn überhaupt, nur aus Erzählungen gekannt hatte?

»Habt ihr schon gehört?«, fragte Bertrand, als sie wie jeden Abend im Schankraum der Taverne beisammen saßen, Baldric wie immer am Ende des Tisches und in Schweigen versunken, Conn mit irgendeiner Aufgabe befasst, die sein Herr ihm zukommen ließ. An diesem Abend galt es, den hölzernen Schild des Ritters, der die typische Mandelform besaß, zu schleifen und die metallenen Beschläge zu polieren. »Wie es heißt, wird auf dem Weg nach Süden eine weitere Streitmacht zu uns stoßen, die sich mit der unseren vereinen soll. Und der Herzog selbst wird sie anführen!«

»Recht so«, sagte Baldric gelassen. »Je mehr Kämpfer sich dem Heer Christi anschließen, desto besser ist es für unsere Sache.«

»Ein Hoch auf den Herzog.« Bertrand hob den hölzernen Humpen, über dessen Rand weißer Bierschaum quoll. »Es ist zwar kein Ale, aber immerhin.«

Remy, der ihm am Tisch gegenüber saß, brummte eine unverständliche Erwiderung, dann hob auch er seinen Krug, und beide tranken. Kaum hatten sie abgesetzt, verfiel der Hüne wieder in das alte Schweigen, während Bertrand, dessen Schweinsäuglein schon vom Alkohol glänzten, munter weiterplapperte: »Sobald wir uns mit dem Heer des Herzogs vereint haben, meine Freunde, geht es geradewegs nach Süden.«

Aufgrund einer Zeichnung, die Baldric mit einem Stück Kohle für ihn angefertigt hatte, hatte er inzwischen eine ungefähre Vorstellung davon, wo sich diese fernen Länder und Städte befanden, aber noch immer erschienen sie ihm unerreichbar fern. Die Welt, so kam es ihm vor, war innerhalb weniger Wochen um vieles größer geworden – und komplizierter.

Italien.

Griechenland.

Byzanz.

Der Nachhall dieser Namen, die mehr Fremdheit verhießen, als Conn in seinem ganzen Leben erfahren hatte, geisterte wie ein Echo durch seinen Kopf.

»Der Graf von Flandern wird ebenfalls Truppen stellen und den Feldzug begleiten«, fuhr Bertrand beflissen in seinem Vortrag fort, »und wie zu hören ist, hat sich auch der Graf von Blois zur Teilnahme verpflichtet. Allerdings«, fügte er grinsend und mit gedämpfter Stimme hinzu, »ist dies wohl mehr dem Ehrgeiz seiner Gemahlin geschuldet. Wir alle wissen, wessen Blut in ihren Adern fließt.«

Natürlich hatte Conn keine Ahnung, worauf der Normanne anspielte, aber er wollte auch nicht fragen, um nicht schon wieder als Tölpel dazustehen. Bertrand jedoch sah das Unwissen in seinen Augen, und da der Alkohol seine ohnehin redefreudige Zunge noch zusätzlich gelockert hatte, setzte er zu einer Erklärung an. »Unser junger Angelsachse weiß nicht, wovon ich spreche, nicht wahr? Schön, junger Freund, dann werde ich es dir erklären. Die Gemahlin Stephens de Blois ist keine andere als Adele, eine leibliche Tochter des Eroberers – und wie es heißt, hat der alte William ihr nicht nur eine ansehnliche Mitgift vermacht, sondern auch seinen eisernen Willen.« Er kicherte. »In Blois gibt es nicht wenige, die den armen Stephen bedauern, weil in Wahrheit sein Weib das Sagen hat. Und alle sind sich einig, dass sie es gewesen ist, die ihn zur Teilnahme am Feldzug gedrängt hat, um hinter ihrem Bruder Robert nicht zurückzustehen.«

»Robert?« Conn horchte auf.

»Gewiss, des Eroberers ältester noch lebender Sohn und Herzog der Normandie. Sein jüngerer Bruder William, auch Rufus genannt, sitzt auf dem Thron von England, wie sogar ein hergelaufener angelsächsischer Bengel wissen dürfte.«

Conn nickte nachdenklich. Er kannte den dicklichen Normannen inzwischen gut genug, um ihm seine abschätzigen Worte nicht zu verübeln. Auf seine Kenntnisse in Schrift und Sprache bildete sich Bertrand zwar einiges ein, war sich aber auch nie zu schade, um über sich selbst zu lachen.

»Natürlich weiß ich das«, versicherte Conn deshalb mit mattem Grinsen. »Ich habe mich nur gefragt, warum der König von England nicht am Feldzug gegen die Heiden teilnimmt.«

»Oh, sieh an!« Bertrands Überraschung schien echt zu sein. »Unser junger Freund interessiert sich für die große Politik!«

»Das muss dir doch gelegen kommen«, sagte Baldric mit nachsichtigem Lächeln. »Auf diese Weise kannst du getrost weiterreden und hast zumindest einen, der dir zuhört.«

Einige am Tisch lachten, sogar der schweigsame Remy entblößte das lückenhafte Gebiss – wohl die Folge eines Faustschlags oder Keulenhiebs – zu einem Grinsen. Bertrand schaute ein wenig pikiert drein, was ihn aber nicht davon abhielt, zu einer weiteren Erklärung anzusetzen: »Du musst wissen, Conwulf, dass Herzog Robert und unser König Rufus sich nie besonders grün gewesen sind. Noch zu den Lebzeiten seines Vaters hat sich Robert mehrmals gegen diesen gestellt und sogar Kriege gegen ihn geführt, während Rufus dem alten William treu zur Seite gestanden hat. Zum Dank dafür hat der Eroberer ihm die Krone Englands übertragen, während Robert die Normandie geerbt hat. Aber obwohl die beiden inzwischen miteinander ihren Frieden gemacht haben, belauern sie einander noch immer wie hungrige Wölfe, die nur darauf warten, dem anderen die Beute zu entreißen.«

Bertrand grinste angesichts des bildlichen Vergleichs, den er offensichtlich ziemlich gelungen fand – wie zutreffend er tatsächlich war, wurde Conn jedoch erst in diesem Augenblick klar.

Infolge der Ereignisse, die wie ein Sturm über ihn hereingebrochen waren – von Nias Tod über seine Flucht und Verletzung bis hin zu der Tatsache, dass er sich unwillentlich einer Gruppe von Kreuzfahrern angeschlossen und seine angestammte Heimat verlassen hatte –, hatte er bislang weder Zeit noch Interesse gehabt, über das Gespräch nachzudenken, dessen Zeuge er in jener Nacht geworden war. Auch hatte das, was er in der Kapelle gehört hatte, bislang keinen Sinn ergeben – nun jedoch begann Conn die Zusammenhänge zu begreifen. Schlagartig wurde ihm klar, warum man um jeden Preis seinen Tod gewollt hatte: Er war nicht nur zum Mitwisser eines geplanten Mordes geworden, sondern einer Verschwörung!

Der König von England, so lautete die unfassbare Folgerung, plante die Ermordung seines Bruders Robert, des Herzogs der Normandie, um auf diese Weise in den Besitz von dessen Ländereien zu gelangen und die Güter seines Vaters des Eroberers wieder unter einer – seiner – Krone zu vereinen. Und kein anderer als Guillaume de Rein sollte das Werkzeug dieser tödlichen Intrige sein.