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Obwohl Tostig nur wenige Jahre älter war als Conn, war sein Gebiss faulig und sein Haar bereits schütter. Die Flecken und Schrammen, die seine blasse Haut überzogen, verrieten, dass er im Gefängnis geschlagen worden war, und die dunklen Ränder unter seinen Augen ließen darauf schließen, dass er lange nicht geschlafen hatte.

Inmitten der Schaulustigen sah Conn zu, wie der Karren in Richtung Galgen rumpelte. Die Straßenjungen verspotteten Tostig und trieben derbe Scherze mit ihm, indem sie die Hände an die Hälse legten und ihm mit verdrehten Augen und heraushängenden Zungen vorspielten, was ihn erwartete. Die Menge fand das komisch und lachte laut, worauf Tostig in Tränen ausbrach, was die Leute nur noch mehr erheiterte.

Conn lachte nicht.

Er kannte Tostig nicht gut genug, um echtes Mitleid zu fühlen, dennoch verspürte er Beklemmung. Unwillkürlich fragte er sich, ob die Bürger von London ihm einen ähnlich freundlichen Empfang bereiten würden, wenn es zur Richtstatt ging.

Dem Karren folgten ein Mönch der Abtei Westminster, der den Blick gesenkt hatte und ein Kreuz in den Händen hielt, sowie der Büttel, der das Urteil vollstrecken würde – ein fetter, kurzbeiniger Kerl, dessen Augen so tief lagen, dass sie zwischen der vorspringenden Stirn und den feisten Wangen kaum zu sehen waren. Obwohl der Tag noch jung und es entsprechend kühl war, hatte er bereits Schweiß auf der Stirn, dabei verdiente er seinen Lohn auf denkbar einfache Weise. Und genau um diesen Lohn gedachte Conn ihn zu erleichtern.

Die Wachen und der Reiter hatten unterdessen den Galgenbaum erreicht. Ohne vom Pferd abzusteigen, wies der Behelmte seine Schergen an, den Gefangenen aufs Schafott zu führen, was sich als schwieriger erwies als gedacht. Denn sobald Tostig die Schlinge erblickte, begann er laut zu schreien und zerrte mit aller Kraft an den Fesseln, mit denen ihm die Hände auf den Rücken gebunden waren. Da jemand seine Arbeit offenbar nachlässig gemacht hatte und die Stricke locker waren, gelang es ihm tatsächlich, die Hände freizubekommen. Mit aller Kraft klammerte er sich daraufhin an die Gitterstäbe des Heuwagens, sodass die Wachen – sehr zur Erheiterung der Zuschauer – ihn zunächst nicht zu fassen bekamen und der Büttel sich genötigt sah einzugreifen.

»Willst du wohl loslassen?«, rief er schwer atmend, packte das Eisen, das der Gefangene um den Hals trug, und zog mit aller Kraft daran, um ihn wie einen Hund vom Wagen zu zerren. Doch ungeachtet des rostigen Metalls, das in seinen Hals schnitt, schrie Tostig weiter und hielt sich verzweifelt fest, so als könnte ihn dies vor dem traurigen Ende bewahren, das man ihm zugedacht hatte. Die Menge indes lachte nur noch lauter.

Der Normanne auf dem Pferd brüllte ungeduldig, Tostig solle den Unsinn lassen und sich seiner gerechten Strafe stellen, doch sein Appell verhallte ebenso ungehört wie die beruhigenden Worte, die der Mönch dem Verurteilten zusprach. Daraufhin lenkte der Reiter sein Pferd nach vorn und zückte kurzerhand das Schwert.

Conn senkte den Blick.

Er sah nicht, wie die Klinge des Normannen niederfuhr und Tostigs rechtes Handgelenk durchtrennte, er hörte nur den gellenden Schrei, der über den Richtplatz drang. Ein Raunen ging durch die Menge, die nicht damit gerechnet hatte, an diesem Morgen Blut zu sehen, aber auch nichts dagegen einzuwenden hatte.

Seinen Widerstand hatte Tostig aufgegeben, dafür schrie er wie ein Schwein auf der Schlachtbank, den ganzen Weg vom Wagen bis zum Galgenbaum. Blut schoss aus dem Stumpf an seinem rechten Arm und besudelte die Wachen und den Büttel, der ungerührt seiner Arbeit nachging, den Verurteilten erneut fesselte und ihm anschließend den Strick um den Hals legte. Tostig brüllte weiter, auch dann noch, als der Mönch vortrat, um seine sündige Seele dem höchsten Richter zu empfehlen. Erst als der Henker ihn nach vorn ins Leere stieß, verebbte sein Geschrei und ging in ein grässliches Gurgeln über.

Es dauerte lange, bis Tostig von seinen Qualen erlöst wurde, so sehr klammerte er sich an das Leben. Zappelnd hing er am Strick, während weiterhin Blut aus dem Stumpf triefte. Anfangs wurde hier und dort noch gescherzt und schadenfroh gekichert, dann wendeten die Ersten den Blick ab. Als Tostig der Eierdieb sein irdisches Dasein schließlich beendet hatte, lachte niemand mehr – außer dem Büttel, dem der Mann zu Pferd einen Beutel klingenden Geldes zuwarf.

Der Feiste bedankte sich mit einem Nicken, und während der Reiter und seine Schergen sich abwandten und in die Burg zurückkehrten, blieb er zurück, denn auch das Abnehmen und Begraben des Hingerichteten gehörte zu seinen Pflichten.

Die Meute der Gaffenden löste sich ebenfalls auf, nun, da es nichts mehr zu sehen gab, und der Augenblick, auf den Conn gewartet hatte, war gekommen.

Wenn die Erfahrung ihn etwas gelehrt hatte, dann dass es keinen Sinn hat, zu bescheiden zu sein. Natürlich musste man ein offenes Auge haben und sich gut überlegen, wen man um seine Habe erleichtern wollte und wen nicht, aber Tostigs grässliches Schicksal bewies, dass Bescheidenheit nicht vor Strafe schützte, ebenso wie zu große Vorsicht. Wer zögerte, der lief nur Gefahr, entdeckt und womöglich geschnappt zu werden, und beides wollte ein Dieb tunlichst vermeiden.

Die Kapuze tief ins Gesicht gezogen, bahnte sich Conn einen Weg durch die abziehende Menge und arbeitete sich an den Büttel heran, der am Fuß des Galgens stand und, seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, mit dem Ergebnis seiner Arbeit durchaus zufrieden war. Mit dem Handrücken fuhr er sich über die Stirn und verwischte dabei das Blut, mit dem er besudelt war. Der Feiste jedoch schien es nicht einmal zu bemerken – das Ledersäckchen, das er an seinem Gürtel befestigt hatte, entschädigte ihn für alle Mühen.

Inzwischen war Conn fast heran, nur noch wenige Schritte trennten ihn vom Galgen. Mit flinken Blicken wog er seine Möglichkeiten ab und handelte kurz entschlossen.

Ein vierschrötiger Mann, der an ihm vorbei wollte, wurde unversehens zum Komplizen. Conn tat so, als hätte er ihn nicht gesehen, und rempelte ihn an. Der Fremde, den Schwielen an den Händen und den muskulösen Oberarmen nach ein Schmied, ließ sich das nicht gefallen und stieß ihn zurück, nicht ohne ihm eine bittere Verwünschung mit auf den Weg zu geben – und Conn, nur dem Augenschein nach von der Macht des Zufalls geleitet, prallte gegen die massige Gestalt des Büttels.

»Verdammt! Kannst du nicht aufpassen?«

»Verzeiht, Herr«, beeilte sich Conn zu versichern und senkte das Haupt in einer Geste, die unterwürfig wirken sollte, in Wahrheit jedoch dazu diente, seine Gesichtszüge zu verbergen. »Es wird nicht wieder vorkommen.«

»Das hoffe ich, du Schmeißfliege! Pack dich fort, hörst du?«

»Natürlich, wie Ihr wollt, Herr«, beteuerte Conn und verbeugte sich noch einmal, während er sich bereits entfernte. Dann wandte er sich blitzschnell um und war im nächsten Moment zwischen anderen Zuschauern verschwunden, die in die Stadt zurückkehrten, um ihr Tagwerk zu beginnen.

Eine Weile lang ging Conn mit ihnen, dann bog er in eine Seitengasse ab, die schmal und dunkel genug war, um kein Aufsehen zu erregen, und in der es so streng roch, dass er sicher unbeobachtet bleiben würde. Erst hier griff er unter seine Tunika, zog den kleinen Beutel aus Wildleder hervor, der unbemerkt seinen Besitzer gewechselt hatte, öffnete ihn und betrachtete den Inhalt.

Es waren fünf Pennys.

So viel also, dachte Conn beklommen, war das Leben eines Diebes wert.

2.

Köln

Zur selben Zeit

Die Stadt hatte sich verändert.

Niemandem, der innerhalb der alten Mauern lebte, die die Römer hinterlassen hatten und die im Lauf der Jahrhunderte zum Fluss hin erweitert worden waren, konnte dies entgangen sein. Chaya war es ebenfalls nicht verborgen geblieben, obwohl sie das Haus seit dem Tod ihrer Mutter nur selten verließ und dann meist nur in Begleitung ihres Vaters.